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]. Historisches Stillleben
Je unfruchtbarer die Gelehrsamkeit gewordell war,
um so mehr zitierte und klassifizierte sie. Weil man
die lebendige Fülle der wissenschaftlichen Gestalten
nicht mehr zu fassen vermochte, suchte man von den
selben möglichst sauber das Skelett herauszuschälen.
Wer ein jeglich Ding in die meisten Arten und Unter
arten zerfällte, der hatte den Preis der Gelahrtheit.
So soll nach den Briefstellern des siebzehnten Jahr
hunderts ein einfacher, aber echter und gerechter Brief
aus zwölf Teilen bestehen, als salutatio, exordium,
narratio, confirmatio, petitio etc.; der letzte „Teil"
ist sigilli impressio. Diese zwölf Teile werden dann
wieder dreifach gruppiert als „wesentliche", „mit-
folgend-notwendige" und „willkürlich-beliebige". Die
Gliederung der Briefarten selbst aber spaltet sich
vollends ins Unendliche. Am ergötzlichsten wird dieser
maßlose Formalismus der Zopfzeit in einer besonderen
Gattung von Briefen, die man „Grußbriefe" nannte.
Dies waren nämlicb solche Briefe, die man ohne einen
bestimmten Stoff des Schreibens bloß wechselte, um
sie zu wechseln, eine Korrespondenz um der Korrespon
denz willen. Die alten Briefsteller geben nicht nur
reichliche Anleitung zu derlei Briefen, sondern sie
zweigen auch hier wieder Unterarten ab und lehren
z. B., wie einer, der auf einen Grußbrief, welcher
nichts enthielt, keine Antwort bekommen hat, eine
zweiten Grußbrief abfassen solle, der nun einen In
halt gewinnt, indem er das Bedauern ausspricht, daß
auf den ersten inhaltlosen Brief eine Antwort nicht
erfolgt sei. Es wird dann wieder unterschieden zwischen