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I. Historisches Stillleben
Italien keine einheitliche Stimmung. Schon vor
hundert Jahren unterschied man dort, vom tieferen
zum höheren aufsteigend: römischen, venetianischen und
lombardischen Ton. In Rom dürfte man also un
gefähr aus dem Pariser Ton spielen, in Oberitalien
aus dem Wiener und Petersburger. Ich schreibe keine
politischen Metaphern, sondern trockene musikalische
Wahrheit.
Sollte aber diese Varietät der musikalischen Stim
mung, die ihre historischen Wurzeln weit hinauf treibt,
etwas ganz Willkürliches und Zufälliges sein? Schon
der deutsche Sprachgebrauch legt in das Wort
„Stimmung" einen bedeutungsvollen Doppelsinn. Die
gegebene Basis, auf welcher sich die Akkorde der
Musik, andererseits die Akkorde des Gemütslebens
aufbauen, stempelt er mit dem gleichen Namen.
Es ist eine der reizendsten, aber auch schwierigsten
Aufgaben der Kulturgeschichte, die gleichsam persönliche
Empfindungsweise, welche jedes Zeitalter besonders
kennzeichnet, den Ton, aus welchen dasselbe gestimmt
ist, zu belauschen, im Unterschied von der Erkenntnis
seiner ausgesprochenen Taten und Gedanken,
Diese Aufgabe würde unlösbar sein, wenn nicht
die Kunstgeschichte einen Schlüssel dazu gäbe. Ich
zeigte aber schon im Vorhergehenden bei dem „land
schaftlichen Auge", daß hierbei weit weniger die
historische Würdigung der Kunstwerke als solcher in
gegenwärtig (1858) ein Tridentinum nach Paris zur Wieder
herstellung der Katholizität in der europäischen Orchester
stimmung.