Die Nationalhymne ist wohl das am meisten, jedenfalls
das bei feierlichen Anlässen am häufigsten gesungene weltliche
Lied des Volkes. So kann sich in ihr mancher Charakter-
zug der Nation spiegeln; Worte und Weisen der National-
hıymnen kennen zu lernen und miteinander zu vergleichen, ist
deshalb eine anziehende Aufgabe volkskundlicher Forschung.
Das einhundertundzwölfte der historischen Konzerte, durch
die seit fast dreissig Jahren der Bohn’sche Gesangverein
zu Breslau die geschichtliche Entwicklung der Musik darzu-
stellen strebt, galt den „Nationalhymnen der europäischen
Völker“. Es wurden vierundzwanzig ausgewählte National-
hymnen, zum grossen Teil in den Originalsprachen, gesungen,
und den musikalischen Darbietungen ging, wie es bei diesen
Konzerten stets geschieht, ein einleitender Vortrag voraus, der
Entstehung, Bedeutung und Charakter der einzelnen Hymnen zu er-
läutern suchte. Da für diesen Vortrag nicht mehr als eine knappe
halbe Stunde zur Verfügung stand, konnte nur das Allerwich-
tigste kurz berührt werden. Herr Professor Dr. Th. Siebs
aber sprach den Wunsch aus, dass diese Darstellung erweitert
und in der namens der „Schlesischen Gesellschaft für Volks-
kunde“ herausgegebenen Sammlung „Wort und Brauch“ ge-
druckt würde. Das gab erfreuliche Gelegenheit, Vieles, was
im Konzertsaale nur in kurzen Umrissen angedeutet werden
konnte, breiter auszuführen und Texte und Melodien weiteren
Kreisen zu vermitteln.
Die Nationalhymne im allgemein gebräuchlichen Sinne
kann auf kein hohes Alter zurückblicken; im Altertum wie im
Mittelalter ist sie nicht nachweisbar. Ihr Werden und ihre
Wort und Brauch IV. Bohn. Nationalhymnen