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Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
steht. Wenn also die Erfahrung ergibt, daß die menschliche
Phantasie vor allem durch die Vorgänge am Himmel zur
Mythenbildung angeregt wurde, so dürfen wir nicht der Theorie
zuliebe, daß der Mensch sich zuerst um das nächstliegende
kümmere, etwa die Vorgänge der irdischen Welt als Quelle
mythischer Vorstellungen ansehen, vielmehr müssen wir unsere
theoretischen Anschauungen einer Revision unterziehen. Selbst
wenn wir zugeben, daß die nächstliegende Umwelt zuerst Be-
achtung findet, so beweist das doch nichts für die Mythen-
bildung. Diese könnte gleichwohl erst durch die Himmels-
beobachtung angeregt sein. Warum aber die Himmelserschei-
nungen nicht zugleich mit den irdischen die Aufmerksamkeit
sollten gefesselt haben, ist vollkommen unerfindlich, Schon
die Alten waren darüber nicht im Zweifel:
„Os homini sublime dedit coelumque tueri
Zussit et erectos ad sidera tollere vultus‘“
singt der römische Dichter.
Wenn der Volksglaube aller Zeiten nicht die Sonne,
sondern den Mond als Beherrscher des organischen Lebens
ansieht, so müssen wir das hinnehmen und psychologisch zu
erklären suchen ohne Rücksicht auf unsere das Gegenteil
erkennende wissenschaftliche Weltanschauung, die eben mit
der mythischen nichts gemein hat.
83. Jeder Mythus ist, wenn wir seine Bedeutung erkennen
wollen, zunächst wörtlich zu nehmen. Keiner seiner Züge
darf ungeprüft für willkürlich gelten. Ein Mythus, der aus-
drücklich das Verhältnis von Sonne und Mond zueinander
oder zum Morgenstern behandelt, muß als Sonnen-, Mond-
oder Morgensternmythus aufgefaßt werden, solange nicht
triftige Gründe für das Vorliegen einer sekundären Umdeu-
tung, für ein nachträgliches Hineingelegtsein jener Natur-
beziehung beigebracht sind. Ist die Naturgrundlage aber,
wie so oft, verhüllt oder durch eine andere ersetzt, wird z, B.
die himmlische Handlung zum rein irdischen Tier- oder
Heldenmärchen, liegt eine Einkleidung symbolischer Art vor,
so muß sich das durch ganz bestimmte Kriterien kundgeben.
Wir suchen dann mit Hülfe der alle Veränderungen über-