Kapitel XI.
Mythenwanderung,
Das bereits früher im Anschluß an die Frage der gegen-
seitigen Beeinflussungen gestreifte Wanderungsproblem
verdient noch eine besondere Erörterung in bezug auf die
Wanderungen von Einzelmythen, Märchen und Motiven oder
das Auftreten ähnlicher Formen, seien sie analoge oder
homologe Bildungen, bei Völkern der verschiedensten Rassen
und Zonen. Man war ehedem für die Erklärung solcher Er-
scheinungen ausschließlich auf die Entlehnungstheorie ange-
wiesen und zwar in ihrer gröbsten Form, der Annahme eines
einheitlichen Ursprungs der Gesamtmythologie von einem ge-
wöhnlich im Bereich der orientalischen Kulturen gesuchten
Zentrum aus. So hielt Creuzer Indien, J.Braun Ägypten
für das Ursprungsland. Selbst die Massageten mußten als
ursprüngliche Mythenerfinder herhalten. Allen aber galt uralte,
später mißverstandene und entstellt überlieferte Priesterweis-
heit für die Quelle der mythologischen Vorstellungen.
Auch nachdem sich jene rein spekulativen Annahmen
als unhaltbar erwiesen hatten, dauerte die psychologisch er-
klärliche Neigung, alle Analogien auf Entlehnung zurückzu-
führen, fort, Benfeys zwar gut begründete, aber allzu ein-
seitig ausgedehnte Theorie vom Ursprung des gesamten euro-
päischen Märchenschatzes aus Indien befestigte nur diese
Anschauungen, zumal sie gleichzeitig der von jeher herrschen-
den Disposition entgegenkam, alles Licht aus dem Orient zu
erwarten,
Zu einer freieren Auffassung führte die von Bastian
begründete Theorie des Völkergedankens, nach der mit