Kapitel I. Einleitung.
Denk- und Ausdrucksform einer zu anderem als bildlichen
und mythischen Denken nicht vorbereiteten Zeit*,
Die Hauptquelle für die Kenntnis dieses primitiven Geistes-
zustandes ist für uns das Märchen und zwar zunächst das
einfache, „naturmythologische Märchen“, wie Wundt es nennt,
in dem die mythische Denkweise sich unmittelbar bekundet,
Innige Verbindung mit der Natur und ihren Geschöpfen, Ein-
fachheit der Handlung, die oft nur an ein Motiv sich anrankt
oder wenige verknüpft, Schlichtheit der Form und moralische
Indifferenz sowie Mangel leitender Ideen unterscheiden es von
den späteren Formen, namentlich dem auf dichterischer Kr-
findung beruhenden oder doch poetisch umgearbeiteten Kunst-
märchen der Literatur, das die einfachen Vorstellungen und
Motive einer Tendenz dienstbar macht und allegorische Ein-
kleidung zum Ausdruck von Lebensweisheit oder moralischer
Prinzipien benutzt. Je mehr freie Erfindung sich im Märchen
geltend macht, um so geringer ist sein mythologischer Wert.
Lokale Ungebundenheit ist dagegen ebensowenig wie die
Kausalität des Wunders ein Kriterium für das eigentliche
Märchen. KErsteres trifft höchstens für unsere europäischen
Märchen zu. In anderen Gebieten, namentlich Amerika und
Özeanien, ist Ort und Persönlichkeit oft genau bestimmt,
mögen auch diese Beziehungen erst sekundär hineingelegt sein.
Von einer Kausalität des Wunders, wie sie Wundt (Mythus 1,
P. 380) hervorhebt, kann im eigentlichen Sinne nur im späteren
Kunstmärchen die Rede sein. Denn Wunder nennen wir nur
die außergewöhnlichen, die natürliche Kausalität durchbre-
Chenden Erscheinungen. Im primitiven und zum Teil sogar
Noch im Volksmärchen sind Zauberkräfte, wie die Fähigkeit
beliebigen Gestaltenwechsels und dergleichen Eigenschaften,
die den Trägern der Handlung ihrer Natur nach zukommen.
Sie gehören als selbstverständlich zu deren Wesen. Erst im
Märchen der höheren Kulturstufen, vor allem in der an histo-
"sche Vorgänge oder örtliche Erscheinungen anknüpfenden
Sage werden die magischen Qualitäten bestimmten Persönlich-
keiten im Gegensatz zu anderen beigelegt und ihre Wirkungen
) Fritzsche, N. Jahrb. £. d. klass. Altert. 13, p. 556,