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Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
nungen der Natur, sondern auch seelische Zustände und
Lebensformen des Menschen können gelegentlich vermensch-
licht werden.
Ebenso deutlich zeigt sich aber die Ungleichartigkeit
dieser Personifikationen.
Erstens in ihrer Verbreitung. Universell und von an-
nähernd gleichem Charakter sind nur die der kosmischen
Körper, wie Sonne und Mond, andere, wie Himmel, Erde,
Wind, Wolken, irdische Formationen, sind zwar weit aber
nicht allgemein verbreitet und stark differenziert, andere, wie
Feuer und Wasser, sind sehr selten, wieder andere kommen
nur unter bestimmten Kulturverhältnissen vor, wie Zeitab-
schnitte, menschliche Beziehungen, Krieg, Friede, Handel und
überhaupt abstrakte Eigenschaften, Zustände und Begriffe.
Zweitens in ihrer mythenbildenden Kraft. Diese ist
am größten und mannigfachsten ausgeprägt bei den Himmels-
körpern als fest umschriebenen, sinnlich real wahrgenommenen,
mit Eigenbewegung und Gestaltveränderung, also scheinbarem
Leben begabten Individualitäten,
Geringer ist die der atmosphärischen Erscheinungen, die
entweder, wie die Aurora oder Dämmerung, fester Formen
überhaupt ermangeln, oder, wie Wolken und Nebelbildungen,
solche nur vorübergehend oder verschwommen besitzen, oder
sie nur indirekt auf assoziativem Wege erhalten, wie die Eos,
bei der nur die Rosenfinger oder die mit ihr verbundene Mond-
sichel die Vorstellung des Körperlichen erwecken.
Leblose irdische Objekte, wie Berge, Felsbildungen u, dgl.,
haben zwar Körperlichkeit, oft geradezu menschliche Form,
doch fehlt ihnen die Bewegung. Ihre mythologische Rolle ist
örtlich bedingt und beschränkt sich im allgemeinen auf die
Verwandlungssagen, kann aber gelegentlich durch besondere
Verhältnisse gesteigert werden. So wird z. B. bei ostsibi-
rischen Völkern (n. Bogoras) der tägliche Wechsel des
Schattens der Berge nach Länge und Kürze als deren Lebens-
äußerung betrachtet, wie denn überhaupt hier eine ganze
Schattenwelt als Komplement neben der wirklichen Erschei-
nungswelt steht. Leichter und wirksamer ist die Personifi-
kation der Pflanzen, zumal der Bäume, weil hier den oft vor-