Kapitel VI.
Stoffe der Mythologie.
Daß alles menschliche Erfahren ursprünglich zu mythi-
schem Ausdruck drängt, ist längst anerkannt. Woher schöpft
der Mensch aber seine Erfahrung? Zunächst aus der Natur,
in der er seit Anbeginn lebt und webt, ferner aus seinem
eigenen Leben, seinen Schicksalen, seinen körperlichen und
seelischen Zuständen, endlich auch aus seiner Stellung zu den
Mitmenschen, also der gesellschaftlichen Umwelt in ihren
historischen Formen und Formveränderungen.
Sofern aber der Mensch selbst nur ein Teil der Natur ist
und seine Lebensformen überall durch die Naturverhältnisse
bestimmt und beherrscht werden, so wäre in letzter Linie
jede Mythologie Naturmythologie.
Die Frage, ob es überhaupt einen Naturmythus gibt,
braucht also gar nicht erst erörtert zu werden.
Die Bedeutung der Natur als der Quelle mythischer
Vorstellungen ist niemals ganz verkannt worden, Schon die
Alten waren sich des innigen Zusammenhanges ihrer Götter-
gestalten und deren Mythen mit den Eindrücken der Natur
stets bewußt! und erst der Überkritik der modernen Zeit im
ı) Vgl. hierüber die Bemerkungen L. Heidemanns (Elem. d. gr.
Rel.-Gesch., Beiblatt d. Germania Nr. 52, 1908): „Platon sagt von der Ur-
bevölkerung Griechenlands, daß ihr Glaube mit dem der meisten Barbaren
übereinstimmte, indem sie Sonne, Mond, Erde, die Sterne und den Himmel
als Gottheiten verehrten .... So waren nach Aristoteles ursprünglich auch
nur-die Gestirne göttliche Wesen, wie von der Väterzeit her uns den Späteren,
in Gestalt des Mythus überliefert ist“.