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So lang-, dat id Gode im Himmel verdrot,
Do mussten se lieden grote Schande.
Vgl. Jndigena 147. Grümbke I 48. Haas: Rüg. Sagen 1. Aufl. 198.
Der Schatz an plattdeutschen Volksliedern ist früher sicher viel größer
gewesen als heutzutage. So manches schöne alte Lied, das noch vor zwei bis
drei Generationen wohlbekannt und vielgesungen wurde, ist inzwischen der Ver
gessenheit anheimgefallen. Der Grund für diese Erscheinung ist weniger in
etwaiger Gleichgültigkeit gegen das altererbte Volksgut als vielmehr in dem
Eindringen neuer Volkslieder zu suchen, die natürlich alle hochdeutsche Texte
haben. Schon vor 40—50 Jahren konnte man beobachten, daß Mädchen der
dienenden Klasse, die sonst nie ein hochdeutsches Wort in ihren Mund nahmen,
trotzdem hochdeutsche Lieder sangen. Ein mir kürzlich zugänglich gewordenes,
handschriftliches Liederheft, das in den Jahren 1869—1885 größtenteils in
der Umgegend von Putbus entstanden und nach dem Volksmunde nieder
geschrieben ist, enthält 117 Lieder, und unter diesen befindet sich nicht ein
einziges plattdeutsches Lied, und dabei ist der Verfasser der Sammlung, ein
Bauerhossbesitzer in Lonvitz, ein Plattdeutscher von echtem Schrot und Korn.
Das ist auch ein Beweis dafür, wie das Plattdeutsche allmählich an Boden
verliert und vom Hochdeutschen verdrängt wird.
5. Sage und Märchen.
Die weiteren Äußerungen des volkstümlichen Geisteslebens, die wir hier
zu betrachten haben, erstrecken sich auf Sage und Märchen, Aberglauben, Sitte
und Brauch.
Daß die rügensche Volkssage besonders reiche Blüten getrieben hat, ist
allgemein bekannt. Die landschaftliche Schönheit der Insel und ihrer Neben
inseln, die reiche Abwechslung von Berg und Tal, von Wald und Feld, von
Wasser und Land und die außerordentlich große Zahl von geschichtlichen und
vorgeschichtlichen Denkmälern aller Art haben von jeher die Phantasie des
rügenschen Volkes angeregt und Rügen zu „der sagenumwobenen Insel der
Ostsee" gemacht.
Was den Inhalt des rügenschen Sagenschatzes betrifft, so sind darin
wohl ziemlich alle Arten, sowohl die mythischen als auch die geschichtlichen
und örtlichen Sagen vertreten. ,
In den mythischen Sagen finden wir Züge wieder, die zum großen
Teil noch auf altheidnischen Vorstellungen beruhen. Die Sagen von wieder
erscheinenden Toten, von gespenstischen Leichenzügen, von bergentrückten Geistern,
von Gespenstern in Tier- oder Menschengestalt, von Spuck- und Poltergeistern
spiegeln uns den Seelenglauben unserer Altvorderen wieder. Unter den
rügenschen Elbensagen finden wir solche von Haus-, Lust-, Wasser- und Erd
geistern. In den Götter- und Dämonensagen nimmt der Wilde Jäger, der
auf Rügen noch unter dem altertümlichen Namen Wode bekannt ist, den
weitesten Raum ein. Andere Göttergeftalten haben sich in den Volkssagen
zu Riesen und Teufeln umgewandelt. Die Sage von der Göttin Hertha ist
keine echte Bolkssage, sondern erst in neuerer Zeit künstlich in den Volksmund
hineingetragen worden. Teufel-, Hexen- und Zaubersagen sind ebenso zahlreich
vorhanden, wie Wunder-, Glocken- und Schatzsagen.
Diesm rein mythischen Sagen stehen die geschichtlichen und örtlichen
Sagen gegenüber. Einwanderung und Siedelung, Krieg und Kamps, gewaltige