WAS HEISZT VOLKSLIED?
1 Sitte und Brauch besitzen wir die festesten
Bestandteile der Volksüberlieferung, und
bei einer wissenschaftlichen Betrachtung
dieser Erzeugnisse der Volksseele eróffnet
sich der weiteste Gesichtskreis. Wenn sie trotzdem
nicht zuerst von uns behandelt werden sollen, so mag
die Geschichte der Volkskunde unser Verfahren recht-
fertigen, denn der Anteil der Gebildeten am Volks-
liede hat den Anstoß zum Ausbau unserer Wissen-
schaft gegeben.
Auf Weniges vielleicht sind wir Deutschen so stolz
wie auf unser Lied, und wir kónnen uns nicht anders
denken, als daß wir in ihm ein Kleinod haben, wie
fremde Nationen es nicht aufzuweisen vermögen. Es
steckt in dieser Ansicht, die man immer und überall
ausgesprochen findet, ein gutes Stück vaterländischen
Hochgefühls, das nur zum Teil berechtigt ist; der
große Weimarer Volksforscher Reinhold Köhler hat
sich schon vor über 25 Jahren genötigt gesehen, sie
zurückzuweisen. Dunger hatte in der Einleitung zu
seinen Rundás und Reimsprüchen aus dem Vogtlande
behauptet, das deutsche Volk nenne in seinen Volks-
liedern ein poetisches Erbe aus der Viter Zeit sein
eigen, dem keine andere Nation ein würdiges Gegen-
stück an die Seite setzen könnte. Dazu bemerkte
Köhler: „Ohne irgendwie Gewicht auf meine eigene:
ume