rr
fast gar nicht gerecht geworden, und doch spielten ge-
rade die Weisen eine oft größere Rolle als die Worte;
„gegenüber der zärtlichen Weichheit der Slaven ist
ein echt deutsches Zurückhalten der Empfindung in
den Worten sichtbar: nur die Melodie darf die ganze
Fülle der Seele ausdrücken“ (Gustav Freytag). Der
Charakter der Weisen hat sich nicht unwesentlich ver-
ändert, wenngleich noch immer die Durtonarten die
Regel bilden. Aber die Stimmführung ist vom Tenor
zum Sopran übergegangen, wir haben auch manches
ausländische Melodiengut übernommen. Bänkelsänger-
melodien sind leider nicht selten und viel zu beliebt.
Erk-Böhmes Liederhort, Böhmes altdeutsches Lieder-
buch und Volkstümliche Lieder dürften als die wich-
tigsten, geradezu unentbehrlichen Hilfsmittel für jeden
gelten, der sich mit dem Volksliede befaßt. Bezüg-
lich weiterer Literatur genügt ein Hinweis auf Pauls
Grundriß der germanischen Philologie.
Die Tage, wo das Volkslied eine Macht im Volks-
leben war, sind wohl unwiederbringlich dahin. Die
Ursachen können nicht zweifelhaft sein. Seit die Haus-
industrie hinzusiechen anfängt, ist die Gelegenheit zu
gemeinsamem Arbeitsgesang nicht mehr, vorhanden.
Der Handwerkerstand liegt darnieder; fröhliche Weisen
begleiten den Mann auf der Walze kaum, seitdem aus
der Wanderschaft meist eine Eisenbahnfahrt geworden
ist. Die geselligen Vereinigungen wie Sommerhaufen,
Spinn- oder Klóppelstube werden sich nicht mehr
lange halten. Bei dem Gesumm und Gebrumm der
Maschinen gedeiht das Volkslied nicht. Diese national-
ókonomischen Bedingungen für den Verfall des Volks-
liedes lassen sich nicht abändern. Wir sind in
unserer Arbeit ernster und hastiger geworden; die
Sorge ums tägliche Brot wächst in dem Maße, wie
wir, den Begriff des täglichen Brotes erweiternd, an-
spruchsvoller werden. Auch die falsche Auffassung von
Reuschel, Volkskundliche Streifzüge.