Wollen wir uns klar werden, was Kunde vom Volke
heißt, so müssen wir den Umfang des Wortes „Volk“
zu bestimmen suchen, Was ist ein Volk?
Im gewöhnlichen Sprachgebrauch wird zwischen
„Volk“ und „Nation“ kaum ein Unterschied gemacht;
so war es auch im 16. Jahrhundert, als das Wort
„Nation‘ Eingang in unsere Sprache fand. Damals
sang man ein Lied auf den Tod des Kurfürsten Moritz
von Sachsen, das mit den Versen begann:
Mit schwarz thu dich bekleiden,
O teutsche nation,
Rew, klag und hab groß leiden:
ITZ ist dein held davon u. s. w.
Anders aber behandelt das Staatsrecht die Begriffe
Volk und Nation. Ihm stellt die letztere einen scharfen
Unterschied zum ersteren dar; nach Bluntschli ist Nation
die Bezeichnung für einen Kultur-, Volk die für einen
Staatsbegriffí Man kann bald den einen, bald den
anderen den umfangreicheren nennen. Zum Wesen der
Nation gehórt es, dafs die ihr Angehórenden gleiche
Abstammung, gleiche Sprache und Sitte aufweisen; sie
brauchen darum nicht unter einer Regierung vereinigt
zu sein. Ein Volk dagegen bildet eine politische Ein-
heit, und gegenüber diesem einigenden Bande spielt
die Tatsache, ob alle Volksgenossen dieselbe Sprache
reden, derselben Herkunft sind und annähernd die
nämliche Sittlichkeit besitzen, keine Rolle. Es ist aus
der Geschichte bekannt, daß Nation und Volk zu-
sammenfallen können, daß man hat Nationalstaaten
schaffen wollen.
Daß Gemeinsamkeit der Abstammung bei dem
Begriffe der Nation das Wesentliche ist, ergibt sich
aus dem Worte, dessen Herkunft von nasci „geboren
werden'* einleuchtet; bei Blutsverwandtschaft versteht
sich Gleichheit der Sprache und der Lebensgewohn-
heiten beinahe von selbst.!)