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kanern bereits mehr sakramentale Bedeutung angenommen, war
also nicht mehr ein bloßer Zauber.
Die Mexikaner waren nun freilich bereits ein Kulturvolk, aber
der stabilisierende Mythos nach Art des eben angeführten Uitzilo-
pochtli-Mythos findet sich auf allen Stufen der Naturvölker,
z. B. bei den Eskimo. Der Sedna-Mythos von Baffin-Land diene
hier als Beispiel: Ein Witwer lebte mit seiner Tochter Sedna
allein an einsamer Küste. Trotz aller Bewerbungen wollte sie
nicht heiraten, bis im Frühling eine Eismöve sie durch die Schil
derung des reichlichen und bequemen Lebens in ihrem fernen
Heim gewann. Als sie aber dort mit ihr ankam, erwies sich alles
als erlogen, und sie verlangte dringend, daß ihr Vater, der sie
nach einem Jahre besuchen kam, sie wieder nach Hause mit
nähme. Um die Leiden, denen die Tochter ausgesetzt gewesen
war, an ihrem Gatten zu rächen, tötete der Vater diesen und
ruderte mit seiner Tochter davon, wurde aber bald von den
übrigen Eismöven verfolgt. Sie erregten einen solchen Sturm,
daß der Vater im Angesichte des Todes die Tochter über Bord
warf, um sie den Vögeln zu opfern. Sie klammerte sich jedoch
mit den Händen am Boot fest, so daß sich der Vater genötigt
sah, nacheinander ihre einzelnen Fingerglieder mit dem Messer
abzuschneiden, die ins Meer fielen und sich in Walfische und
verschiedene Arten von Seehunden verwandelten. Da nun der
Sturm nachließ, weil die Seemöven Sedna ertrunken wähnten,
ließ er sie wieder ins Boot herein. Seitdem hegte sie aber einen
solchen Haß gegen ihren Vater, daß sie ihre Hunde antrieb, ihm
im Schlafe Hände und Füße zu benagen. Darauf verfluchte der
Vater sich selbst, die Tochter und die Hunde, die Erde öffnete
sich und verschlang die beiden mitsamt den Hunden, so daß sie
jetzt unten in dem Lande Adlivum leben, dessen Herrin Sedna
ist 13 ).
Es scheint nun, daß das Wesentliche und Notwendige an dem
13) Franz Boas, The Central Eskimo, 6th ann. Rep. Bureau of Ethnol.
p. 583 ff.
3? r e u ß , Mythen.
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