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Volltext: Curare, 38.2015

Was leistet das Wohnen für die emotionale Stabilität? 
modernen Technik manchmal nur noch erahnt wer- 
den kann. Darauf reagiert der Wohnende mit einer 
„Grenzangst‘“, die KISCHNIK schon bei spielenden 
Kindern unter zwölf Jahren beobachtet hat;® so- 
gar ein freistehendes Treppenhaus, das in gewissen 
Neubauten neben dem Wohnbereich — etwa in einen 
zylindrischen Turm am Rand — gelegt ist, kann auf 
diesem Hintergrund fremd und unheimlich wirken, 
weil es dem Wohnen nicht mehr, wie die üblichen 
Treppenhäuser mit Absätzen vor der Wohnungstür, 
angeeignet werden kann.’ Eine Beschwörungsformel 
des Volksaberglaubens lautet: „Ich bespreche dich, 
Erschrecken, magst du von der Feldgrenze oder vom 
Wind oder vom Schlaf geschickt sein ...; hier darfst 
du nicht verweilen, du sollst im freien Land dich ... 
aufhalten.‘® 
Das unheimliche Gefühl als ergreifende Macht 
gehört hiernach ins Draußen jenseits der Umfrie- 
dung. Tiefsinnig ist dieses Motiv in der Grettirsaga 
gestaltet. Grettir kämpft zunächst im Haus mit dem 
Riesen Glam, der ihm dort nicht gewachsen ist und 
ihn beim Fall nach rückwärts durch die Tür mit nach 
draußen reißt. „In dem Augenblick nun, da Glam fiel, 
zog eine Wolke von dem Mond fort, und Glam stier- 
te mit den Augen dagegen. Und so hat Grettir selbst 
gesagt, dass dies der einzige Augenblick war, der ihn 
mit Entsetzen erfüllt hätte. Da wurde ihm so elend 
zumute, dass er aus Erschöpfung und weil er sah, wie 
Glam seine Augen rollen ließ, nicht vermochte, sein 
Schwert zu brauchen, sondern fast zwischen Leben 
und Sterben lag.‘® 
Von diesem halb mystischen Muster einer gleich 
von der Umfriedung des Wohnens anbrechenden 
Herrschaft des unheimlich Ergreifenden lässt sich 
leicht zu einer Anwendung auf das moderne Leben 
übergehen. Der an chronischer Schlaflosigkeit lei- 
dende Philosoph LuDwıc KLiAGEs bekennt in einem 
Privatbrief: „Für mich ist die beste Schlafstätte der 
Alkoven, wie solche von unseren Urgroßvätern ge- 
schätzt wurden. Ich muss mich ganz umschlossen 
und abgeschlossen fühlen.‘“!* Für den sensiblen, ner- 
vösen Menschen, der sich in später Stunde zur Ruhe 
gelegt hat, wird die umgebende Nacht zum unheim- 
lichen Draußen, sein Bett zur Wohnung, und an der 
Chance dieser eine Umfriedung zu verschaffen, kann 
für ihn — wie die Äußerung von Klages nahelegt — die 
Aussicht hängen, sich der Bedrängnis durch das Ab- 
gründige so zu entziehen, dass er die zum Einschla- 
fen erforderliche Ruhe findet. Nach einer Notiz im 
Spiegel aus dem Juni 1961 versprach die Internati- 
onal Hotels Corporation den reisenden Amerikanern 
Curare 38(2015 
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eine „Welt ohne Fremde“.!! Ich erwarte, dass sich 
bei der so intendierten Nivellierung des Gegensatzes 
von Wohnung und Draußen mit den Mitteln moder- 
ner Technik eine Diffusion der nicht mehr zu bannen- 
den atmosphärisch [60] erregenden Mächte ergeben 
wird, mit den Folgen nervöser Unrast und Gereizt- 
heit, vielleicht auch zunehmender Schlaflosigkeit der 
eben besprochenen Art oder unberechenbarer Affekt- 
überflutung, wie sie etwa am politischen Geschehen 
dieses Jahrhunderts maßgeblich und manchmal ver- 
hängnisvoll beteiligt war. Noch ist es nicht so weit. 
Die Nivellierung jenes Gegensatzes ist auch den 
demokratisch-egalitären Tendenzen des Zeitalters 
noch nicht gelungen, so wenig wie in deren Dienst 
der Technik. Das zeigt sich an der immer noch 
prekären Stellung des Fremden, der von draußen 
kommt und damit das Abgründige in die Wohnung 
einschleppt. Kriminalpsychologischen Erfahrungen 
wollte HAns von HeEnTiG (1954) eine noch immer 
verbreitete Einstellung entnehmen, die den Fremden 
unwillkürlich als unheimliches, ja feindliches Wesen 
auffasst.!? Verächtlich verdächtigend spricht man von 
„hergelaufenen“ Fremden und unterstreicht so die 
Herkunft von draußen, Ich erinnere an die Gastarbei- 
ter, zu denen unsere Volksgenossen — mehr noch die 
Schweizer — ein ziemlich ambivalentes Verhältnis zu 
haben pflegen. 
Damit sind sie nicht allzu weit von den Dschag- 
ganegern entfernt, über die BRUNO GUTMANN (1926) 
berichtet: „Das Dschaggawort mhenu bezeichnet den 
Fremden, mit dem Gefühlstone der Überraschung, 
des Unvermuteten, ja wohl gar des Erschreckens. 
Das Abstraktum davon: wuhenu hält alle diese Ge- 
fühle fest und bezieht sich schon ganz auf den Besuch 
aus dem Geisterreich. Wuhenu nennen sie das Bellen, 
Krächzen und Schreien der Geistertiere, wie Eule, 
Hyäne, Schakal auf dem nächtlichen Hofe, oder das 
Quaken des Frosches im Hause. Mbuja, das Wort für 
Freund, stellt im Gegensatz hierzu das Gewohnte und 
Erwünschte im Verhältnisse zweier einander blut- 
fremden Menschen fest, von iwuja: wiederkehren.‘!? 
Eine Art von Reinigungsritual, das dem Fremden 
die Abgründigkeit abstreifen und in der Atmosphäre 
der Wohnung aneignen soll, ist die noch heute ver- 
breitete Sitte wechselseitigen Grüßens beim Eintritt. 
Wenn jemand eine fremde Wohnung, ja auch nur ein 
partiell besetztes Eisenbahnabteil betritt oder sich im 
Wirtshaus zu anderen an einen Tisch setzt,!* ohne zu 
grüßen und damit die Gelegenheit zum Gegengruß 
zu bieten, wirkt er meist nicht nur unkonventionell, 
sondern auch als irgendwie unbehaglicher, ja un-
	        
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