Was leistet das Wohnen für die emotionale Stabilität?
modernen Technik manchmal nur noch erahnt wer-
den kann. Darauf reagiert der Wohnende mit einer
„Grenzangst‘“, die KISCHNIK schon bei spielenden
Kindern unter zwölf Jahren beobachtet hat;® so-
gar ein freistehendes Treppenhaus, das in gewissen
Neubauten neben dem Wohnbereich — etwa in einen
zylindrischen Turm am Rand — gelegt ist, kann auf
diesem Hintergrund fremd und unheimlich wirken,
weil es dem Wohnen nicht mehr, wie die üblichen
Treppenhäuser mit Absätzen vor der Wohnungstür,
angeeignet werden kann.’ Eine Beschwörungsformel
des Volksaberglaubens lautet: „Ich bespreche dich,
Erschrecken, magst du von der Feldgrenze oder vom
Wind oder vom Schlaf geschickt sein ...; hier darfst
du nicht verweilen, du sollst im freien Land dich ...
aufhalten.‘®
Das unheimliche Gefühl als ergreifende Macht
gehört hiernach ins Draußen jenseits der Umfrie-
dung. Tiefsinnig ist dieses Motiv in der Grettirsaga
gestaltet. Grettir kämpft zunächst im Haus mit dem
Riesen Glam, der ihm dort nicht gewachsen ist und
ihn beim Fall nach rückwärts durch die Tür mit nach
draußen reißt. „In dem Augenblick nun, da Glam fiel,
zog eine Wolke von dem Mond fort, und Glam stier-
te mit den Augen dagegen. Und so hat Grettir selbst
gesagt, dass dies der einzige Augenblick war, der ihn
mit Entsetzen erfüllt hätte. Da wurde ihm so elend
zumute, dass er aus Erschöpfung und weil er sah, wie
Glam seine Augen rollen ließ, nicht vermochte, sein
Schwert zu brauchen, sondern fast zwischen Leben
und Sterben lag.‘®
Von diesem halb mystischen Muster einer gleich
von der Umfriedung des Wohnens anbrechenden
Herrschaft des unheimlich Ergreifenden lässt sich
leicht zu einer Anwendung auf das moderne Leben
übergehen. Der an chronischer Schlaflosigkeit lei-
dende Philosoph LuDwıc KLiAGEs bekennt in einem
Privatbrief: „Für mich ist die beste Schlafstätte der
Alkoven, wie solche von unseren Urgroßvätern ge-
schätzt wurden. Ich muss mich ganz umschlossen
und abgeschlossen fühlen.‘“!* Für den sensiblen, ner-
vösen Menschen, der sich in später Stunde zur Ruhe
gelegt hat, wird die umgebende Nacht zum unheim-
lichen Draußen, sein Bett zur Wohnung, und an der
Chance dieser eine Umfriedung zu verschaffen, kann
für ihn — wie die Äußerung von Klages nahelegt — die
Aussicht hängen, sich der Bedrängnis durch das Ab-
gründige so zu entziehen, dass er die zum Einschla-
fen erforderliche Ruhe findet. Nach einer Notiz im
Spiegel aus dem Juni 1961 versprach die Internati-
onal Hotels Corporation den reisenden Amerikanern
Curare 38(2015
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eine „Welt ohne Fremde“.!! Ich erwarte, dass sich
bei der so intendierten Nivellierung des Gegensatzes
von Wohnung und Draußen mit den Mitteln moder-
ner Technik eine Diffusion der nicht mehr zu bannen-
den atmosphärisch [60] erregenden Mächte ergeben
wird, mit den Folgen nervöser Unrast und Gereizt-
heit, vielleicht auch zunehmender Schlaflosigkeit der
eben besprochenen Art oder unberechenbarer Affekt-
überflutung, wie sie etwa am politischen Geschehen
dieses Jahrhunderts maßgeblich und manchmal ver-
hängnisvoll beteiligt war. Noch ist es nicht so weit.
Die Nivellierung jenes Gegensatzes ist auch den
demokratisch-egalitären Tendenzen des Zeitalters
noch nicht gelungen, so wenig wie in deren Dienst
der Technik. Das zeigt sich an der immer noch
prekären Stellung des Fremden, der von draußen
kommt und damit das Abgründige in die Wohnung
einschleppt. Kriminalpsychologischen Erfahrungen
wollte HAns von HeEnTiG (1954) eine noch immer
verbreitete Einstellung entnehmen, die den Fremden
unwillkürlich als unheimliches, ja feindliches Wesen
auffasst.!? Verächtlich verdächtigend spricht man von
„hergelaufenen“ Fremden und unterstreicht so die
Herkunft von draußen, Ich erinnere an die Gastarbei-
ter, zu denen unsere Volksgenossen — mehr noch die
Schweizer — ein ziemlich ambivalentes Verhältnis zu
haben pflegen.
Damit sind sie nicht allzu weit von den Dschag-
ganegern entfernt, über die BRUNO GUTMANN (1926)
berichtet: „Das Dschaggawort mhenu bezeichnet den
Fremden, mit dem Gefühlstone der Überraschung,
des Unvermuteten, ja wohl gar des Erschreckens.
Das Abstraktum davon: wuhenu hält alle diese Ge-
fühle fest und bezieht sich schon ganz auf den Besuch
aus dem Geisterreich. Wuhenu nennen sie das Bellen,
Krächzen und Schreien der Geistertiere, wie Eule,
Hyäne, Schakal auf dem nächtlichen Hofe, oder das
Quaken des Frosches im Hause. Mbuja, das Wort für
Freund, stellt im Gegensatz hierzu das Gewohnte und
Erwünschte im Verhältnisse zweier einander blut-
fremden Menschen fest, von iwuja: wiederkehren.‘!?
Eine Art von Reinigungsritual, das dem Fremden
die Abgründigkeit abstreifen und in der Atmosphäre
der Wohnung aneignen soll, ist die noch heute ver-
breitete Sitte wechselseitigen Grüßens beim Eintritt.
Wenn jemand eine fremde Wohnung, ja auch nur ein
partiell besetztes Eisenbahnabteil betritt oder sich im
Wirtshaus zu anderen an einen Tisch setzt,!* ohne zu
grüßen und damit die Gelegenheit zum Gegengruß
zu bieten, wirkt er meist nicht nur unkonventionell,
sondern auch als irgendwie unbehaglicher, ja un-