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Volltext: Curare, 38.2015

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friedigte Bedürfnis, zu wohnen, kann ihm leicht noch 
aufdringlicher als diesem zu Bewusstsein kommen 
und zum „Ekel am Hotel“ mit seiner unpersönlichen 
Einrichtung und dem ständigen Gehen und Kommen 
der Menschen sich steigern, mag auch die Ausstat- 
tung dort bequemer und luxuriöser al in einer kleinen 
Privatwohnung sein. Das Beispiel [58] zeigt, wie we- 
nig für das Wohnen durch bloße Unterkunft und Ver- 
sorgung des Leibes getan ist, wie sehr es dafür viel- 
mehr auf die Ausgewogenheit von Atmosphäre, auf 
den Gewinn von Sicherheit, Ruhe und Entfaltung in 
sinem ganzheitlichen „Klima“ des Lebens ankommt. 
Was mit dieser noch vagen Rede ins Auge gefasst 
ist, kann präzis erst gesagt werden, seit ich die In- 
trojektion systematisch und produktiv überwunden 
habe, indem ich in ausgedehnten Publikationen — de- 
ren Ergebnisse ich hier der gebotenen Kürze wegen 
als richtig und bekannt voraussetzen muss — gezeigt 
habe, wie das Gesicht der Welt sich ändert, wenn die 
im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert 
eingeführte Scheidung der Innenwelt von der Außen- 
welt aufgehoben wird und so gleichsam die Winde 
dem Schlauch des Äolus entweichen.‘ 
Was vorher als innerweltliches Gefühl in Seele, 
Bewusstsein oder- Gemüt eines jeden eingesperrt 
schien, erweist sich nun als räumlich ergossene At- 
mosphäre, der der Mensch wie dem phänomenalen 
(nicht: dem physikalischen) Wetter, das ebenso at- 
mosphärisch ist, leiblich (d.h. im Gegenstandgebiet 
des leiblichen Spürens) ausgesetzt ist. Wohnen wird 
unter diesem Gesichtspunkt zu einer Weise, sich 
leiblich mit räumlich ergossenen Atmosphären aus- 
einanderzusetzen, um der bloß passiven Ergriffenheit 
durch sie zu entgehen, indem der Mensch sie sich 
nahe bringt, vertraut und gewissermaßen gefügig 
macht. Dazu gehört eine räumliche Abgrenzung, ein 
Umfriedung, die den Gefühlen nicht ihre Abgründig- 
keit und uferlose Ergossenheit nehmen kann, aber 
sie in einem abgeschlossenen, umfriedeten Raum so 
sammelt, dass der Mensch wenigstens innerhalb des 
umgrenzten Bezirks, in dem sie freilich nicht ganz 
aufgehen, sich unter ihnen zurechtfinden und in ge- 
wissem Grad über sie verfügen kann. Wohnung ist 
so ein geschützter Raum, in dem der Mensch dank 
der filternden Umfriedung in gewissem Maß Gele- 
genheit hat, sich mit den Stimmungen — sei es auch 
der Langeweile — und den abgründigen Erregungen 
zu arrangieren, indem er sie in einer Hinsicht züch- 
tigt, in einer anderen dämpft und so im günstigsten 
Fall für ein schonendes, aber auch intensives und 
nuancenreiches Klima des Gefühls sorgt. Es leuchtet 
HERRMANN SCHMITZ 
vielleicht schon ein, dass dieser Begriff nicht nur auf 
die häusliche Wohnung, sondern z.B. auch auf die 
Kirche und den Garten passt, ja ein anthropologisch 
unterbautes Verständnis des Gartens erst ermöglicht. 
Ich will nun zunächst über die Abgrenzung der 
Wohnung nach draußen, dann über Kultur der Ge- 
fühle als die Binnengestaltung des Wohnens und 
schließlich über den Übergang von Wohnung zu 
Wohnung etwas sagen. 
Moderne Mietwohnungen sind oft so knapp und 
durchlässig gebaut, dass keine Tür den Flur hinter 
der Eingangstür vom Wohnzimmer trennt. Darüber 
beschweren sich die Leute bei einer wohnsoziolo- 
gischen Befragung: „Auf jeden Fall haben wir eine 
Tür zu wenig, nämlich die Tür zwischen Eingangs- 
flur und Wohnraum. Das ist z.B. beim Essen, wenn 
jemand kommt, sehr unangenehm.“ „Müssen denn 
die Lieferanten gleich mitten in meinem schönsten 
Zimmer stehen? Ich habe nichts gegen diese Leute, 
aber ...“ „... wir wünschten uns einen abgeschlosse- 
nen Flur. Jeder ist sofort im Wohnzimmer.‘ Die Ab- 
schließung nach außen, eine dem Augenschluss ver- 
gleichbare Umfriedung, gehört hiernach speziell zum 
Wohnzimmer, das innerhalb der gesamten Wohnung 
der Aufgabe des Wohnens ganz besonders gewidmet 
ist. Wird sie versagt, bricht gleichsam ein Kartenhaus 
zusammen, das der Bewohner sich in der abgründi- 
gen Weite des Gefühlsraums reserviert hat; hier wer- 
den Stimmungen, deren er sonst nicht habhaft wer- 
den kann und [59] denen er dennoch preisgegeben 
ist, so eigentümlich gefiltert, gestaut und abgewogen, 
dass sie zur Vertrautheit und Verfügbarkeit heranrei- 
fen und die behagliche, stimmungsvolle Poesie, die 
gelöste Atmosphäre des Wohnens im Wohnzimmer 
zu Stande kommt. Wird die Umfriedung durchlö- 
chert, so dass die Mitwelt — in Gestalt der Menschen, 
die Klingeln und Einlass begehren — in regellosen 
Intervallen eindringen und zusehen kann, dann bleibt 
es bei der Preisgegebenheit, die sonst im Wohnen 
überspielt werden könnte. Daher die dünnhäutige 
Empfindlichkeit des Wohnenden gegen solches Ein- 
dringen, auch bei Menschen, die sonst keine großen 
Hemmungen haben, etwas Verräterisches von sich 
preiszugeben, z.B. das Gesicht, das bei uns niemand 
verschleiert, wenn er auf die Straße geht. 
Überdies ist das Draußen, wo die ungefilterten 
Erregungen ihr Wesen treiben, der Bereich des fas- 
zinierenden Unheimlichen, mit einer Reindarstellung 
in Gestalt von tiefem Wald oder tiefster Nacht, die 
früheren Generationen selbstverständlich war, von 
uns aber dank der nivellierenden Wirksamkeit der 
YWB — Verlag für Wissenschaft und Bildung
	        
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