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friedigte Bedürfnis, zu wohnen, kann ihm leicht noch
aufdringlicher als diesem zu Bewusstsein kommen
und zum „Ekel am Hotel“ mit seiner unpersönlichen
Einrichtung und dem ständigen Gehen und Kommen
der Menschen sich steigern, mag auch die Ausstat-
tung dort bequemer und luxuriöser al in einer kleinen
Privatwohnung sein. Das Beispiel [58] zeigt, wie we-
nig für das Wohnen durch bloße Unterkunft und Ver-
sorgung des Leibes getan ist, wie sehr es dafür viel-
mehr auf die Ausgewogenheit von Atmosphäre, auf
den Gewinn von Sicherheit, Ruhe und Entfaltung in
sinem ganzheitlichen „Klima“ des Lebens ankommt.
Was mit dieser noch vagen Rede ins Auge gefasst
ist, kann präzis erst gesagt werden, seit ich die In-
trojektion systematisch und produktiv überwunden
habe, indem ich in ausgedehnten Publikationen — de-
ren Ergebnisse ich hier der gebotenen Kürze wegen
als richtig und bekannt voraussetzen muss — gezeigt
habe, wie das Gesicht der Welt sich ändert, wenn die
im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert
eingeführte Scheidung der Innenwelt von der Außen-
welt aufgehoben wird und so gleichsam die Winde
dem Schlauch des Äolus entweichen.‘
Was vorher als innerweltliches Gefühl in Seele,
Bewusstsein oder- Gemüt eines jeden eingesperrt
schien, erweist sich nun als räumlich ergossene At-
mosphäre, der der Mensch wie dem phänomenalen
(nicht: dem physikalischen) Wetter, das ebenso at-
mosphärisch ist, leiblich (d.h. im Gegenstandgebiet
des leiblichen Spürens) ausgesetzt ist. Wohnen wird
unter diesem Gesichtspunkt zu einer Weise, sich
leiblich mit räumlich ergossenen Atmosphären aus-
einanderzusetzen, um der bloß passiven Ergriffenheit
durch sie zu entgehen, indem der Mensch sie sich
nahe bringt, vertraut und gewissermaßen gefügig
macht. Dazu gehört eine räumliche Abgrenzung, ein
Umfriedung, die den Gefühlen nicht ihre Abgründig-
keit und uferlose Ergossenheit nehmen kann, aber
sie in einem abgeschlossenen, umfriedeten Raum so
sammelt, dass der Mensch wenigstens innerhalb des
umgrenzten Bezirks, in dem sie freilich nicht ganz
aufgehen, sich unter ihnen zurechtfinden und in ge-
wissem Grad über sie verfügen kann. Wohnung ist
so ein geschützter Raum, in dem der Mensch dank
der filternden Umfriedung in gewissem Maß Gele-
genheit hat, sich mit den Stimmungen — sei es auch
der Langeweile — und den abgründigen Erregungen
zu arrangieren, indem er sie in einer Hinsicht züch-
tigt, in einer anderen dämpft und so im günstigsten
Fall für ein schonendes, aber auch intensives und
nuancenreiches Klima des Gefühls sorgt. Es leuchtet
HERRMANN SCHMITZ
vielleicht schon ein, dass dieser Begriff nicht nur auf
die häusliche Wohnung, sondern z.B. auch auf die
Kirche und den Garten passt, ja ein anthropologisch
unterbautes Verständnis des Gartens erst ermöglicht.
Ich will nun zunächst über die Abgrenzung der
Wohnung nach draußen, dann über Kultur der Ge-
fühle als die Binnengestaltung des Wohnens und
schließlich über den Übergang von Wohnung zu
Wohnung etwas sagen.
Moderne Mietwohnungen sind oft so knapp und
durchlässig gebaut, dass keine Tür den Flur hinter
der Eingangstür vom Wohnzimmer trennt. Darüber
beschweren sich die Leute bei einer wohnsoziolo-
gischen Befragung: „Auf jeden Fall haben wir eine
Tür zu wenig, nämlich die Tür zwischen Eingangs-
flur und Wohnraum. Das ist z.B. beim Essen, wenn
jemand kommt, sehr unangenehm.“ „Müssen denn
die Lieferanten gleich mitten in meinem schönsten
Zimmer stehen? Ich habe nichts gegen diese Leute,
aber ...“ „... wir wünschten uns einen abgeschlosse-
nen Flur. Jeder ist sofort im Wohnzimmer.‘ Die Ab-
schließung nach außen, eine dem Augenschluss ver-
gleichbare Umfriedung, gehört hiernach speziell zum
Wohnzimmer, das innerhalb der gesamten Wohnung
der Aufgabe des Wohnens ganz besonders gewidmet
ist. Wird sie versagt, bricht gleichsam ein Kartenhaus
zusammen, das der Bewohner sich in der abgründi-
gen Weite des Gefühlsraums reserviert hat; hier wer-
den Stimmungen, deren er sonst nicht habhaft wer-
den kann und [59] denen er dennoch preisgegeben
ist, so eigentümlich gefiltert, gestaut und abgewogen,
dass sie zur Vertrautheit und Verfügbarkeit heranrei-
fen und die behagliche, stimmungsvolle Poesie, die
gelöste Atmosphäre des Wohnens im Wohnzimmer
zu Stande kommt. Wird die Umfriedung durchlö-
chert, so dass die Mitwelt — in Gestalt der Menschen,
die Klingeln und Einlass begehren — in regellosen
Intervallen eindringen und zusehen kann, dann bleibt
es bei der Preisgegebenheit, die sonst im Wohnen
überspielt werden könnte. Daher die dünnhäutige
Empfindlichkeit des Wohnenden gegen solches Ein-
dringen, auch bei Menschen, die sonst keine großen
Hemmungen haben, etwas Verräterisches von sich
preiszugeben, z.B. das Gesicht, das bei uns niemand
verschleiert, wenn er auf die Straße geht.
Überdies ist das Draußen, wo die ungefilterten
Erregungen ihr Wesen treiben, der Bereich des fas-
zinierenden Unheimlichen, mit einer Reindarstellung
in Gestalt von tiefem Wald oder tiefster Nacht, die
früheren Generationen selbstverständlich war, von
uns aber dank der nivellierenden Wirksamkeit der
YWB — Verlag für Wissenschaft und Bildung