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Die historisch belegte Medizin ist die Geschichte
vom Kommen und Gehen und vom Austausch von
Heilkunst und Heilmitteln im Verlauf eines ständi-
gen Kulturwandels. Doch noch nie war die Durch-
dringung anderer Kulturen, d.h. Medizinsysteme,
durch eine — die naturwissenschaftlich-positivis-
tisch-rationale technologische des Abendlandes — so
absolutistisch, machtvoll und ubiquitär. Doch auch
diese ist nicht frei von Gegenströmungen. Die Art
und Weise, wie heute „traditionelle Medizin“ be-
handelt, erforscht und ausgebeutet wird, ist Beweis
dafür. Eine Triebfeder für diesen Trend auf der Su-
che nach Alternativen, nach Traditionellem — zwei
Begriffe, die auseinandergehalten werden müssen —
ist die Schwäche oder vermeintliche Schwäche des
einen Systems vor allem im „humanen“ Bereich.
Dies erfordert Kritikfähigkeit, Toleranz und den of-
fenen Blick, allerdings noch mit der Sicherheit des
vertrauten Systems im Hintergrund. Vielleicht ist
dies nur eine Übergangsphase vor erneuter Engstir-
nigkeit und Intoleranz.
Die Bereitschaft zur kritischen und freien Aus-
einandersetzung mit den sogenannten nicht wissen-
schaftlichen Medizinsystemen wird von Puristen
der naturwissenschaftlichen Medizin als morbide
Unwissenschaftlichkeit betrachtet. Die Grenze zwi-
schen Wissen und Glauben ist gerade in der Medi-
zin fließend.
Nicht die naturwissenschaftlichen Grundlagen
der Medizin stehen zur Diskussion; diese werden
immer weiter und tiefer und entreißen dem Bereich
des Glaubens oder der Empirie immer neue Ge-
heimnisse und überführen sie in naturwissenschaft-
lich begründetes Wissen. Die Medizin als Kunst des
Heilens und Vorbeugens von Krankheit mit Hilfe
der Naturwissenschaften steht zur Diskussion. Es
gibt nach wie vor vieles im Zusammenhang mit
Gesundheitsverhalten, Krankheits- und Heilungs-
prozessen, dessen wissenschaftliche Erklärung aus-
steht. Mit zunehmender Erkenntnis über Gesundheit
und Krankheit nehmen diese Fragen zu. So sehr die
Heilung der objektiv fassbaren Diagnose und The-
rapie bedarf, und niemand streitet dies ab, so sehr
bedarf sie andererseits in vielen Fällen auch (noch)
nicht wissenschaftlich objektivierbarer Prozesse,
ohne die der Patient — ohne dass Arzt und Patient
sich darüber klar sein müssen — nicht gesunden odeı
sein Leid tragen kann. Das Problem für den Patien-
ten besteht darin, dass diese Antinomie zwischen
wissenschaftlicher und nicht wissenschaftlicher
Ethnomedizin quid es et quo vadis?
Medizin auf seinem Rücken ausgetragen wird, ihn
verunsichert, Vertrauen untergräbt und ihn damit
des wohltätigen Einflusses des sogenannten Place-
bo-Effekts beraubt. Die Unvereinbarkeit beginnt
dort sich zu manifestieren, wo die Jünger der einen
Richtung die Jünger der anderen zu überzeugen su-
chen und, wo dies nicht gelingt, diskriminieren und
verteufeln, nur weil die Messinstrumente des einen
die Objekte des anderen (noch) nicht zu erfassen
vermögen, oder weil man sich darum nicht bemü-
hen zu müssen glaubt.
Zum Wohle des Patienten wäre es besser, es wür-
den beide Seiten oder wie viele es auch sein mögen,
im Einzelfall versuchen, die ihnen jeweils gesetzten
Grenzen zu erkennen und zu respektieren und der
anderen Seite eine Chance einzuräumen. Jede Seite
wird stets Argumente für sich und gegen die andere
Seite haben und mit gutem Grund.
Die Kraft der Heilung liegt aber nicht nur in der
objektiven Kraft der Droge oder des Eingriffs, son-
dern auch in der Überzeugungskraft, oder im Glau-
ben des Heilers an seine Kunst, die er auf den Kran-
ken überträgt. Die Pharmakologie nennt dies im
Zusammenhang mit Medikamenten Placebo-Effekt,
ohne den es keine Gesundung gibt. Dies gilt für den
Schamanen ebenso wie für den modernen Chirur-
gen. Dies ist eine von den Naturwissenschaften un-
abhängige Variable, die zu allen Zeiten der Medizin
eigen ist. Und hier liegt die Trennlinie zwischen
Ärzten in jeglichem Heilsystem und Scharlatanen.
Da haben in Bereichen jenseits der Wirkungsgren-
zen der naturwissenschaftlichen Medizin psychisch
und psychosomatisch unterstützende Vorgänge ihre
Berechtigung. Wo Angst gemindert oder Glauben
gestärkt wird, findet auch Heilung statt oder wird
Kraft zum Tragen des Leidens vermittelt (Lourdes-
Phänomen).
Zumindest finden diese Phänomene ihre Berech-
tigung, solange die Medizin diese Aspekte nicht
Hans-Jochen Diesfeld *18.04.1932
Prof. Dr. med., DTPH (Lon), Innere,
Wiss. Beirat des BMZ. Seit 1963 in
Praxis (Äthiopien 63-65), Forschung
(u. a. Onchozerkose, öff. Gesundheits-
wesen) und Lehre mit den Problemen
der „Medizin in Entwicklungslän-
dern“ befaßt. Ärztl. Direktor des Inst.
für Tropenhygiene und öff. Gesund-
heitswesen, Im Neuenheimer Feld
324, Heidelberg.
Er wurde 1997 emeritiert und lebt
heute in Starnberg.
Bild und Text aus Curare 1/1984
/WB — Verlag für Wissenschaft und Bildung