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Volltext: Curare, 38.2015

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Die historisch belegte Medizin ist die Geschichte 
vom Kommen und Gehen und vom Austausch von 
Heilkunst und Heilmitteln im Verlauf eines ständi- 
gen Kulturwandels. Doch noch nie war die Durch- 
dringung anderer Kulturen, d.h. Medizinsysteme, 
durch eine — die naturwissenschaftlich-positivis- 
tisch-rationale technologische des Abendlandes — so 
absolutistisch, machtvoll und ubiquitär. Doch auch 
diese ist nicht frei von Gegenströmungen. Die Art 
und Weise, wie heute „traditionelle Medizin“ be- 
handelt, erforscht und ausgebeutet wird, ist Beweis 
dafür. Eine Triebfeder für diesen Trend auf der Su- 
che nach Alternativen, nach Traditionellem — zwei 
Begriffe, die auseinandergehalten werden müssen — 
ist die Schwäche oder vermeintliche Schwäche des 
einen Systems vor allem im „humanen“ Bereich. 
Dies erfordert Kritikfähigkeit, Toleranz und den of- 
fenen Blick, allerdings noch mit der Sicherheit des 
vertrauten Systems im Hintergrund. Vielleicht ist 
dies nur eine Übergangsphase vor erneuter Engstir- 
nigkeit und Intoleranz. 
Die Bereitschaft zur kritischen und freien Aus- 
einandersetzung mit den sogenannten nicht wissen- 
schaftlichen Medizinsystemen wird von Puristen 
der naturwissenschaftlichen Medizin als morbide 
Unwissenschaftlichkeit betrachtet. Die Grenze zwi- 
schen Wissen und Glauben ist gerade in der Medi- 
zin fließend. 
Nicht die naturwissenschaftlichen Grundlagen 
der Medizin stehen zur Diskussion; diese werden 
immer weiter und tiefer und entreißen dem Bereich 
des Glaubens oder der Empirie immer neue Ge- 
heimnisse und überführen sie in naturwissenschaft- 
lich begründetes Wissen. Die Medizin als Kunst des 
Heilens und Vorbeugens von Krankheit mit Hilfe 
der Naturwissenschaften steht zur Diskussion. Es 
gibt nach wie vor vieles im Zusammenhang mit 
Gesundheitsverhalten, Krankheits- und Heilungs- 
prozessen, dessen wissenschaftliche Erklärung aus- 
steht. Mit zunehmender Erkenntnis über Gesundheit 
und Krankheit nehmen diese Fragen zu. So sehr die 
Heilung der objektiv fassbaren Diagnose und The- 
rapie bedarf, und niemand streitet dies ab, so sehr 
bedarf sie andererseits in vielen Fällen auch (noch) 
nicht wissenschaftlich objektivierbarer Prozesse, 
ohne die der Patient — ohne dass Arzt und Patient 
sich darüber klar sein müssen — nicht gesunden odeı 
sein Leid tragen kann. Das Problem für den Patien- 
ten besteht darin, dass diese Antinomie zwischen 
wissenschaftlicher und nicht wissenschaftlicher 
Ethnomedizin quid es et quo vadis? 
Medizin auf seinem Rücken ausgetragen wird, ihn 
verunsichert, Vertrauen untergräbt und ihn damit 
des wohltätigen Einflusses des sogenannten Place- 
bo-Effekts beraubt. Die Unvereinbarkeit beginnt 
dort sich zu manifestieren, wo die Jünger der einen 
Richtung die Jünger der anderen zu überzeugen su- 
chen und, wo dies nicht gelingt, diskriminieren und 
verteufeln, nur weil die Messinstrumente des einen 
die Objekte des anderen (noch) nicht zu erfassen 
vermögen, oder weil man sich darum nicht bemü- 
hen zu müssen glaubt. 
Zum Wohle des Patienten wäre es besser, es wür- 
den beide Seiten oder wie viele es auch sein mögen, 
im Einzelfall versuchen, die ihnen jeweils gesetzten 
Grenzen zu erkennen und zu respektieren und der 
anderen Seite eine Chance einzuräumen. Jede Seite 
wird stets Argumente für sich und gegen die andere 
Seite haben und mit gutem Grund. 
Die Kraft der Heilung liegt aber nicht nur in der 
objektiven Kraft der Droge oder des Eingriffs, son- 
dern auch in der Überzeugungskraft, oder im Glau- 
ben des Heilers an seine Kunst, die er auf den Kran- 
ken überträgt. Die Pharmakologie nennt dies im 
Zusammenhang mit Medikamenten Placebo-Effekt, 
ohne den es keine Gesundung gibt. Dies gilt für den 
Schamanen ebenso wie für den modernen Chirur- 
gen. Dies ist eine von den Naturwissenschaften un- 
abhängige Variable, die zu allen Zeiten der Medizin 
eigen ist. Und hier liegt die Trennlinie zwischen 
Ärzten in jeglichem Heilsystem und Scharlatanen. 
Da haben in Bereichen jenseits der Wirkungsgren- 
zen der naturwissenschaftlichen Medizin psychisch 
und psychosomatisch unterstützende Vorgänge ihre 
Berechtigung. Wo Angst gemindert oder Glauben 
gestärkt wird, findet auch Heilung statt oder wird 
Kraft zum Tragen des Leidens vermittelt (Lourdes- 
Phänomen). 
Zumindest finden diese Phänomene ihre Berech- 
tigung, solange die Medizin diese Aspekte nicht 
Hans-Jochen Diesfeld *18.04.1932 
Prof. Dr. med., DTPH (Lon), Innere, 
Wiss. Beirat des BMZ. Seit 1963 in 
Praxis (Äthiopien 63-65), Forschung 
(u. a. Onchozerkose, öff. Gesundheits- 
wesen) und Lehre mit den Problemen 
der „Medizin in Entwicklungslän- 
dern“ befaßt. Ärztl. Direktor des Inst. 
für Tropenhygiene und öff. Gesund- 
heitswesen, Im Neuenheimer Feld 
324, Heidelberg. 
Er wurde 1997 emeritiert und lebt 
heute in Starnberg. 
Bild und Text aus Curare 1/1984 
/WB — Verlag für Wissenschaft und Bildung
	        
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