Metakulturelle Psychoanalyse — Georges Devereux’ Modell der Komplementarität
Metakulturelle Psychoanalyse — Georges Devereux’ Modell der
Komplementarität und ein zweiter Blick auf die Psychiatrie
von Fann in Dakar
DAnıeLLE Bazzı
A/
Zusammenfassung Der metakulturelle Ansatz von Devereux erweist sich als hoch aktuelles Instrument für un-
;ere heutigen Herausforderungen, in einer globalisierten Welt sowohl Differenz wie auch Universalität der Men-
schen in ihren Kulturen zu verstehen. Es wird kurz auf Devereux’ Konzepte der Komplementarität und der Be-
;bachtungsituation eingegangen, dann folgt eine Beschreibung von zwei therapeutischen Werkzeugen, penc und
1ccompagnement, die in der offenen Psychiatrie in Senegal, einem westafrikanischen Land, entwickelt wurden.
Innerhalb einer Situation der teilnehmenden Beobachtung wurde das hergebrachte Wissen in Frage gestellt. Mit
der komplementären Herangehensweise kann gezeigt werden, dass in einer Kultur, welche auf der manifesten
Ebene die Identifikation mit der Gruppenzugehörigkeit privilegiert, auf der latenten Ebene ein Streben nach Sub-
jektivierung des Einzelnen besteht.
Schlagwörter Metakulturelle Psychoanalyse — Ethnopsychoanalyse — Epistemologie — teilnehmende Beobach-
wung — Komplementarität — Psychiatrie in Fann Dakar — Henri Collomb — psychische Einheit der Menschen
Georges Devereux
The Meta-cultural Psychoanalysis—George Devereux’ Method of Complementarity
and a Second Look at the Psychiatry of Fann in Dakar
Abstract The meta-cultural approach of Devereux proves to be a highly actual instrument for present day chal-
enges to understand difference as well as uhiversality of people in their cultures within a globalized world. There
will be a short discussion of the conceptualization of complementarity and the situation of observation, followed
by a description of penc and accompaniment: two therapeutic tools that have been developed in the open psychiatry
in West-African Senegal. Within a setting of participant observation, knowledge previously taken for granted was
ut into question. The complementarity approach allows showing that in a culture which, on the manifest level,
arivileges the identification with group membership, there exists on the latent level a striving for subjectification
Keywords meta-cultural psychoanalysis — ethnopsychoanalysis — epistemology — participant observation — prin-
ziple of complementarity — psvchiatry in Fann Dakar — Henri Collomb — psychic unity of mankind — Georges
DevereuxX
Resume siehe S. 168
Einleitung
Aus Georges Devereux’ Annahme der Einheit der
Menschen, der Universalität der menschlichen Psy-
che, folgt die Annahme der „Kultur an sich“. De-
vereux gibt ab Ende der 1960er Jahre den Begriff
‚transkulturell“ zugunsten des Begriffs „metakul-
urell“ auf, vordergründig um Missverständnisse zu
vermeiden und um der Banalisierung der Ethnopsy-
choanalyse als Erkenntniswissenschaft und Metho-
de Einhalt zu gebieten. Es scheint mir, dass diese
Umbenennung noch mehr bedeutet. Freud wählt
das Präfix „meta-“, um „die von ihm begründete
Psychologie in ihrer ausschliesslich theoretischen
Dimension“ zu bezeichnen „er definiert die Meta-
3sychologie als wissenschaftlichen Versuch, die
‚metaphysischen’ Konstruktionen zu berichtigen,
die wie der Aberglaube oder bestimmte Formen
der Paranoia in äußere Mächte projizieren, was in
Wirklichkeit zum Unbewussten gehört“ (LAPLANCHE
%& PonTALıs 1972: 307/308). Wir kennen die Ab-
aeigung, die Devereux der Metaphysik gegenüber
hegt, und von daher können wir annehmen, dass
hm Freuds Auffassung der „Metapsychologie“ na-
1esteht. „Als Freud die psychoanalytische Metapsy-
;hologie ‚unsere Mythologie‘ nannte, [...] wollte er
“rare 38(2015)1+2: 147-158