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Friedhelm Brusniak
Ende 1823 bis Frühsommer 1824 hervorgehobene Auffassung, der Vorsteher
eines städtischen Singvereins müsse ungehinderten Zutritt zu den Volks-
schulen erhalten, um den Verein mit stetem Zuwachs von unten heraus bevöl-
kern, und so vergrößern und erweitern zu können. Wie ZELTER schätzte er die
Tonkunst »als die schönste Blume der Geselligkeit«®, forderte jedoch nach-
drücklich als Grundgesetz für jeden städtischen Singverein die unbeschränkte
Oeffentlichkeit. Exklusivität sei abzulehnen. Der Singverein müsse sich dem
ganzen Volk aufschließen. Wer singen lernen wolle, müsse Gelegenheit
hierzu erhalten’.
HERMANN JoserF SCHATTNER faßt seine entsprechenden Beobachtungen
folgendermaßen zusammen: »So ergibt sich das eigenartige Resultat, daß die
gemeinschaftsbildende Kraft des Chorgesangs im Falle Nägelis die singen-
den Menschen aus der Masse des ungebildeten Volkes auf die Ebene des Be-
wußtseins von der Würde des Menschen heraufheben konnte, daß sie ande-
rerseits im Falle der Liedertafel die individualistisch ausgebildeten und obe-
ren sozialen Schichten angehörenden Sänger in der geselligen Vereinigung
des Chors zum Erlebnis gemeinsamer künstlerischer Betätigung brachte und
so die künstlerische Ebene zum Treffplatz sozial unterschiedener Schichten
werden konnte«8,
Als eine wichtige Persönlichkeit in der Gründungsphase der süddeutschen
Laienchorbewegung ist der Stuttgarter Stiftsorganist Konrad KocHER
(1786-1872) anzusehen. Dieser war im Jahre 1806 in St. Petersburg Schüler
des berühmten Klaviervirtuosen MuzıO CLEMENTI (1752-1832) geworden
und hatte daraufhin den Entschluß gefaßt, sich ausschließlich der Musik zu
widmen?. Zu einem Schlüsselerlebnis wurde für ihn der Besuch der unter der
Leitung von DmıiTry BorRTNYANSKY (1751-1825) stehenden kaiserlichen Hof-
kapelle, wo er zum ersten Mal einen religiösen Gesang a cappella ohne muth-
williges störendes Instrumentalgeklimper hörte, der ihn tief erschütterte und
ihm ein unverlöschliches Ideal vom heiligen Gesange in die Seele prägte‘,
Nach seiner Rückkehr wirkte er von 1812 bis 1819 als Musiklehrer und
Komponist von Theatermusiken in Stuttgart. Vermutlich durch den Verle-
ger FRIEDRICH COTTA (1758-1838) angeregt, vertonte KOCHER GOEFTHES
Singspiel »Jery und Bätely«. Am 18. März 1819 schickte Cotta dann eine Ab-
schrift der Partitur an Goethe und verschaffte dem Komponisten schließlich
5 NäceLt, Hans Georc: Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten. Stutt-
gart/Tübingen 1826, Neudruck hg. v. StaeHELIN, MarTıIn. Darmstadt 1983, S. 272.
$ Ebd., S. 271.
7 Ebd.,, S. 272.
8 SCHATTNER (wie Anm. 4), S. 184.
9 Im folgenden nach GoTrwaLD, CLytrus: Konrad Kocher. In: Württ. Blätter für Kirchenmusik
54 (1987), S. 75-81, 114-116.
1 KocHER, KoxraD: Die Tonkunst in der Kirche. Stuttgart 1823, S. XVII.