Zu den modernen Konstrukten »Volksfrömmigkeit«
und »Aberglauben«
Wolfgang Brückner
I. Der Volksfrömmigkeitsbegriff in neueren kirchlichen Verlautbarungen
Der vor kurzer Zeit auch in Deutschland veröffentlichte römische Katechismus für
die gesamte katholische Kirche enthält in seiner deutschsprachigen Fassung einen
Abschnitt im 8. Artikel des 4. Kapitels über die Sakramentalien, überschrieben »Die
Volksfrömmigkeit«, Nr. 1674 ff., dazu den »Kurztext« Nr. 1679. Diese Abschnitte
lauten wie folgt!:
»1674 Die Katechese soll nicht nur der sakramentalen Liturgie und den Sakramentalien Be-
achtung schenken, sondern auch den Frömmigkeitsformen der Gläubigen und der Volksreligio-
sität. Der religiöse Sinn des christlichen Volkes hat von jeher in mannigfaltigen Frömmigkeits-
formen Ausdruck gefunden, die das liturgische Leben der Kirche umgeben — wie die Reliqiuen-
verehrung, das Aufsuchen von Heiligtümern, die Wallfahrten und Prozessionen, die Kreuz-
wegandachten, die religiösen Tänze, der Rosenkranz und die Medaillen.
1675 Diese Ausdrucksformen setzen das liturgische Leben der Kirche fort, ersetzen es aber
nicht. Sie sollen »unter Berücksichtigung der liturgischen Zeiten so geordnet werden, daß sie mit
der heiligen Liturgie zusammenstimmen, gewissermaßen aus ihr herausfließen und das Volk zu
ihr hinführen, da sie ihrer Natur nach ja weit über diesen steht« (SC13).
1676 Es braucht pastorales Unterscheidungsvermögen, um die Volksfrömmigkeit zu stützen
und zu fördern und, falls nötig, den religiösen Sinn, der solchen Andachten zugrunde liegt, zu
reinigen und zu berichtigen, damit diese Andachten die Kenntnis des Mysteriums Christi immer
mehr zur Entfaltung bringen. Ihre Feier untersteht der Obhut und dem Urteil der Bischöfe und
den allgemeinen Normen der Kirche.
‚Die Religiosität des Volkes ist in ihrem Kern eine Ansammlung von Werten, die mit christ-
licher Weisheit auf die großen Existenzfragen Antwort gibt. Die katholische Volksweisheit hat
eine Fähigkeit zur Lebenssynthese; so führt sie in schöpferischer Weise das Göttliche und das
Menschliche, Christus und Maria, Geist und Leib, Gemeinschaft und Institution, Person und
Gemeinschaft, Glauben und Vaterland, Verstand und Gefühl zusammen. Diese Weisheit ist ein
christlicher Humanismus, der von Grund auf die Würde jeder Person als Kind Gottes bejaht,
eine grundsätzliche Brüderlichkeit begründet, lehrt, der Natur zu begegnen und die Arbeit zu
verstehen, und Gründe zur Freude und zum Humor, auch inmitten eines sehr harten Lebens be-
reitstellt. Diese Weisheit ist auch für das Volk ein Grundprinzip für sein Unterscheidungsver-
mögen, ein vom Evangelium getragener Instinkt, aufgrund dessen es spontan begreift, wann in
der Kirche dem Evangelium gedient wird, und wann es ausgehöhlt und durch andere Interessen
erstickt wird« (Dokument von Puebla 488).
1679 Das christliche Leben nährt sich nicht nur aus der Liturgie, sondern zudem aus den viel-
fältigen Formen der Volksfrömmigkeit, die in den verschiedenen Kulturen verwurzelt sind. Die
Kirche ist darauf bedacht, die Volksfrömmigkeit durch das Licht des Glaubens zu erhellen; sie
begünstigt diejenigen Formen, in denen sich ein dem Evangelium entsprechendes Gespür und
eine menschliche Weisheit äußern und die das christliche Leben bereichern«.
1 Katechismus der katholischen Kirche. München 1993, S.448 f. Die bisherige Urfassung liegt
nur in französischer Fassung vor, eine solche aber ist in Würzburg nirgends greifbar.