Die Göttelbriefe im Elsaß
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Die Erforschung dieses Bestandes lieferte zahlreiche Daten und sachdienliche
Hinweise auf die Herkunft der Göttelbriefe — aus städtisch-gebildetem Kreis, auf
Vorlagen für die Verzierung und auf den Gebrauch dieser Patenbriefe auch für ka-
tholische Kinder. Wir möchten uns hier an ein begrenztes »sujet«, nämlich die Inter-
pretation der Texte, halten. Die »longue duree« ist zwischen 1593 und 1930, also über
mehr als drei Jahrhunderte, belegt und die Streuung unseres Materials weist eine
große Beständigkeit auf. In dem Bestand von 1043 Göttelbriefen tragen 21 keinerlei
Hinweise auf ein Datum, sonst ein wertvolles Element der Einordnung; 17 waren in
Notariatsakten des 18. Jahrhunderts in Straßburg enthalten*: sonach liegen 1005 da-
tierte Göttelbriefe vor. Aus dem 16. Jahrhundert stammen ein, aus dem 17. vier
Exemplare. Ab 1710 bis 1819 ist dann ein klarer Anstieg zu verzeichnen, der von der
Französischen Revolution überhaupt nicht berührt wird. Für die Zeit zwischen 1780
und 1789 setzt sich unser Bestand aus 59, zwischen 1790 und 1799 aus 92 und zwi-
schen 1811 und 1819 aus 143 Exemplaren zusammen. Danach ist ein Rückgang zu
verzeichnen; hingegen wurde die Suche nach Göttelbriefen leichter, weil sich bei äl-
teren Leuten noch ein Exemplar der Eltern oder Großeltern befinden konnte. Nach
1860 verringerten sich die Göttelbriefe drastisch; nach 1910 wurden sie immer sel-
tener, wohl infolge von Veränderungen vorab in der Stadt, sodann auf dem Lande,
sowie im Protestantismus selbst, denn der Krieg allein hat sie nicht ausgerottet.
Es stellte sich die Frage, wie man wissenschaftlich Sinn und Bedeutung unserer
dreihundertfünf Texte erfassen kann, z.B. die Beziehung zwischen Text, Illustration
oder Bild. Wie sollte man die Lebensdauer der Texte erklären? Während der Entste-
hung dieser Arbeit war kein einschlägiges wissenschaftliches Modell verfügbar, mit
Ausnahme einer Veröffentlichung über die Ex voto®. Dabei handelt es sich um eine
interessante Darstellung über die serienmäßige Produktion, die eher das Bildmaterial
als die Texte in den Mittelpunkt stellte.
Für eine wissenschaftliche Betrachtung scheint es drei Ansätze zu geben. Der erste
erfaßt die Gesamtheit des Materials. Man stellt eine Tabelle auf und trägt in diese die
Häufigkeit des Vorkommens der verschiedenen Texttypen ein. Die zweite Vorge-
hensweise entspringt eigenem Ermessen. Sie geht davon aus, daß ein mindestens drei-
fach belegter Text starke Verbreitung gefunden haben muß. Auf der anderen Seite
verkennen wir nicht die Schwierigkeiten einer getroffenen Auswahl. Um nur ein Bei-
spiel heranzuziehen: von Wentzel aus Weissenburg, dem berühmten Lithographen
aus dem Elsaß, in Frankreich und Europa bekannt, liegen sieben lichographierte Göt-
telbriefe vor, von denen jedoch anhand unserer Methode lediglich sechs zur Betrach-
tung herangezogen wurden. Der Bestand wies 55 mindestens dreifach verwendete
Texte auf: einer von diesen, nämlich Du bist o liebes Kindliegt — ob handgeschrieben,
lichographiert oder als Holzschnitt 119 mal vor. Er hatte den großen Vorzug, die
Verbindung zwischen Text und Bild zu verdeutlichen. Die dritte Erfassungsmöglich-
keit nach Herstellern bleibt unberücksichtigt.
5 LERCH, DOMInNIQUE: Culture populaire, culture savante: un notaire et les lettres de bapteme ä
Strasbourg au XVIIIe siecle. In: Revue d’Alsace 1979, S. 117-136.
6 Cousin, BErnarD: Le miracle et le quotidien. Les ex-voto DrovencauxX images d’une societe.
Aix-en-Provence 1983.