Volkskunst, Leistungen und Defizite eines Begriffs
Auf dem Gebiete des Kunstgewerbes der Vergangenheit erwuchs aus die-
sen Rückgriffen eine ständig verfeinerte Konturierung und Periodisierung
der Stile, vielleicht® auch eine Einsicht in die Geschichtlichkeit ästhetischer
Normen. Zugleich aber traten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts —
z. B. durch die Intensivierung von Verkehr und wirtschaftlichem Austausch
mit den großen Ausstellungen als einem der Kristallisationspunkte — Sachbe-
reiche in den Gesichtskreis, die sich durch die Beschaffenheit ihrer Formen
und ihre Ornamentik der Zuordnung zu diesen nunmehr beschreibbar ge-
wordenen zeitgebundenen Stileinheiten entzogen oder allenfalls als deren
Reflexe gelten durften. Offenkundig wird hier ein Gebiet erkennbar, das in
seinem Inhalt Affinität zu den Bereichen hat, die später TıeETzE Schwierigkei-
ten mit dem wachsenden Klassifikationsbedürfnissen seiner Wissenschaft
verursachten. Aber auch dies in seiner Zusammensetzung höchst diffuse
Sachgut — wir finden es zunächst als nationale Hausindustrie bezeichnet® —
wurde primär vor der Folie gegenwartsbezogener Retrospektivität als Vor-
bild aktiviert. Dies geschah in der konkreten Nachgestaltung, ebenso aber
auch aufgrund allgemeiner Erwägungen, die unter anderem die für den Ge-
genwartsbezug des Historismus zentralen Motivationsbereiche der Identitiät
und der Integration enthalten’.
Identität wird etwa im Nationalen als ein vielfältig sıch ausprägendes Ele-
ment historischer Einstellung nicht nur deutlich in der Auffassung oder Pro-
pagierung der Neogotik oder später seit ca. 1875 der Neorenaissance als
dem deutschen Stil in Architektur und gewerblicher Produktion, sondern
auch im Umgang mit volkstümlichen Formen- oder Dekorationselementen.
Ihre Fortführung oder Wiederbelebung sicherte angeblich autochthone, na-
tionale Kunstübung, zunächst wohl bei den Völkern Südosteuropas, dann
aber auch — wenn man FERDINAND AvENARIUS und den Kreis um seinen
Kunstwart in Betracht zieht — zunehmend in Äußerungen der völkisch aus-
gerichteten Publizistik des deutschsprachigen Gebietes während der Kaiser-
zeit®. Integration und Partizipation gewährten diese angeblich volkstümli-
und bildende Kunst im Kaiserreich (= Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich,
Bd. IN. Berlin 1983, S. 31—43.
> DEnEexe, BeErRnwarD: Die Entdeckung der Volkskunst für das Kunstgewerbe. In: ZfVk. 60
(1964), S. 168-201.
7 Dazu vor allem die Historismusstudien von HARDTwiG, WoLFGANG: Traditionsbruch und
Erinnerung. Zur Entstehung des Historismusbegriffs. In: Brıx, MICHAEL/STEINHAUSER, MO-
NIKA (Hgg.): »Geschichte allein ist zeitgemäß«, Historismus in Deutschland. Lahn-Gießen
1978, S. 17-27. — Ders.: Kunst und Geschichte im Revolutionszeitalter. Historismus in der
Kunst und der Historismusbegriff der Kunstwissenschaft. In: Archiv für Kulturgeschichte 61
(1979), S. 154-190, (hier bes. 185f.). Hardtwig akzentuiert verschiedentlich die Prägung des
Historismus durch Gegenwartsbezüge.
* DENnEKE, BERNwARD: Beziehungen zwischen Kunsthandwerk und Volkskunst um 1900. In:
Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1968, S. 140-161. — Vgl. v. a. auch KrRATzSCH,