Vernunftkritik und Weiblichkeit
in der französischen Aufklärung
Lieselotte Steinbrügge
Die Epoche der Aufklärung, die bereits von ihren Zeitgenossen als das »Zeitalter der
Vernunft« tituliert wurde, ist in Verruf geraten. Angesichts der menschheitsbedro-
henden Katastrophen des 20. Jahrhunderts mögen heute nur noch wenige an die
Göttin der Vernunft glauben, die vor zweihundert Jahren auf den Festen der Franzö-
sischen Revolution in Gestalt von weißgekleideten Jungfrauen verehrt wurde. In die-
sem Chor der Vernunftkritiker mehren sich weibliche Stimmen, die nicht nur den
technologischen Größenwahn und den Raubbau an der Natur auf das Konto des ra-
tionalen Denkens setzen, sondern die eine direkte Verbindung herstellen zur Unter-
drückung der weiblichen Hälfte der Menschheit. Feministische Vernunftkritik geht
davon aus, daß der Vernunftbegriff der Neuzeit und das auf ihm basierende Ver-
ständnis von Wissenschaft und geschichtlichem Fortschritt, die Idee einer Minder-
wertigkeit des weiblichen Geschlechts nicht etwa in den Bereich des Aberglaubens
oder des religiösen Dogmatismus verwiesen, sondern sie vielmehr endgültig besiegelt
and salonfähig gemacht hat!. Folgende Argumentationsstränge sind in diesem Zu-
sammenhang auszumachen.
\. Die behauptete Universalität der Vernunft, das Paradigma der Aufklärung
schlechthin, ist von Anfang an eine Fiktion gewesen. Das vernünftige Subjekt war im
Verständnis der neuzeitlichen Denker immer nur der (weiße) Mann. Der weibliche
Mensch ist von dieser Vernunft von Anfang an ausgeschlossen worden. Das Allge-
meine ist eigenlich nur das Männliche gewesen. Identitätsstiftend war die Vernunft
ausschließlich für das männliche Subjekt?.
2. Das neuzeitliche Vernunft- und Wissenschaftsverständnis zielt einzig auf Be-
herrschung der Natur und damit auch auf Beherrschung der menschlichen Natur. Da
die Frau an diesem Herrschaftsakt nicht teil hat, ist die weibliche Natur ausschließ-
lich als Objekt einer von Männern praktizierten Vernunft gedacht worden. Beispiel-
haft für diesen Prozeß steht oftmals Bacons Sexualmetaphorik, auf die sowohl Eve
LYN Fox KeLLEr? als auch GENEvIEvE LLOYD verweisen.
3. Die auf Beherrschung der Natur ausgerichtete Vernunft der Neuzeit funktio-
alert nach einer ausschließlich binären Logik: Rationalität oder Irrationalität, Körper
* Zum größeren Zusammenhang vgl. STEINBRÜGGE, LIESELOTTE: Das moralische Geschlecht.
Theorien und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung.
Weinheim/Basel 1987.
? Vgl. z.B. LioypD, Genevibve: The Man of Reason. »Male« and »Female« in Western Philo-
sophy. London 1984 (dt.: Das Patriarchat der Vernunft. »Männlich« und »weiblich« in der
westlichen Philosophie. Bielefeld 1985).
} Fox KELLER, EveLYN: Reflections on Gender and Science. New Haven/London 1985 (dt.:
Liebe, Macht und Erkenntnis. München/Wien 1986).