Gotteserfahrung, Gotteserkenntnis und Vernunftkritik —
von der Scholastik zur Aufklärung
Einleitung
Heide Wunder
Gotteserfahrung, Gotteserkenntnis und Vernunftkritik scheinen sich nach dem heu-
tigen Verständnis auszuschließen. Bis in das Zeitalter der Aufklärung waren sie je-
doch eng miteinander verbunden. Vernünftigkeit bewies und bewährte sich gerade in
der Erkenntnis aus dem »rechten Glauben« (ANSELM VON CANTERBURY). Erst die Dif-
ferenzierung und Säkularisierung des christlichen Wissens-, Deutungs- und Sinnge-
bungssystems seit dem 15. Jahrhundert haben zur Trennung von Glauben und Wis-
sen, von Gotteswissenschaft (Theologie) und »Weltweisheit« (Philosophie), von
»Menschen«- und Naturwissenschaften geführt. Unter diesen Prämissen leuchtet
ein, daß Vernunftkritik nicht erst eine Errungenschaft der Aufklärung darstellt, son-
dern sich auf die jeweils »herrschende Vernunft« beziehen läßt, im mittelalterlichen
Denken also auf die der Scholastik, in der Frühen Neuzeit auf die cartesianische Ver-
2unft. Sie bezeichnet einerseits den Streit der Schulen, andererseits die Ablösung el-
nes Erklärungsparadigmas durch ein neues.
Die folgenden vier Beiträge, die auf Referate im Rahmen zweier Interdisziplinärer
Arbeitsgespräche in Bad Homburg zurückgehen‘, bewegen sich in diesem Diskurs-
feld, und zwar mit dem Interesse, die Rolle und den Beitrag von Frauen zu ermitteln.
Diese Problemstellung ist in der Auseinandersetzung mit der feministischen Wissen-
schaftskritik und der Historischen Frauenforschung entwickelt worden. Für sie be-
stand und besteht die große Provokation darin, daß die großen Denkerinnen nicht in
die theologische Tradierung aufgenommen worden sind und daß Frauen, die doch
wesentlich die religiösen Erneuerungsbewegungen im Mittelalter und in der Frühen
Neuzeit trugen, in der Kirchengeschichte immer nur als »geistlich« Abhängige, nie
als »schöpferisch« dargestellt werden. Nicht zuletzt irritiert die Beobachtung, daß
die großen Veränderungen im Verhältnis von Religion und Gesellschaft vom frühen
Mittelalter bis ins Zeitalter der Aufklärung die Rolle der Frauen in der Kirche kaum
verändert haben: denn nicht nur in der alten Kirche, sondern auch in den protestanti-
schen Kirchen blieben sie von kirchlichen Ämtern ausgeschlossen. Demgegenüber
behaupten die feministische Theologie und die Historische Frauenforschung, daß es
sehr wohl einen — allerdings bisher unterschlagenen — Beitrag von »frommen Frauen«
ı Die Werner-Reimers-Stiftung hat großzügig drei Interdisziplinäre Arbeitsgespräche zum
Thema »Frauenbilder und Frauenrollen im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit« ge-
fördert, darunter »Theologische Frauenbilder — Frauen in der Kirche — Frauenfrömmigkeit«
(September 1988) und »Ideale und reale Präsenz von Frauen in der Gesellschaft der Frühen
Neuzeit« (November 1988). Für ihre große Unterstützung bei der redaktionellen Arbeit danke
ich Erau Dr. CurıstinAa VAanıa (Kassel).