Anthropos 94.1999
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Holger Jebens und Karl-Heinz Kohl
aussagen, als über die Kulturen, mit denen Ethno
logen sich traditionell beschäftigt haben.
Der beschriebene Universalisierungsprozeß läßt
sich auch bei einer der jüngsten religionsethno
logischen Kreationen, dem Begriff “Cargo-Kult”,
beobachten. Auch dieser Begriff wird gegenwär
tig für bestimmte Erscheinungen innerhalb der
westlichen Kultur wie etwa das Bemühen um
die Akkumulation von materiellem Besitz (Hui-
zer 1992) oder die Selbstbefreiungsbewegung der
Bürger der ehemaligen DDR (Rutschky 1992)
verwendet, nachdem er zuvor nur im Bezug auf
spezielle sozialreligiöse Bewegungen entwickelt
worden war, die in großer geographischer und hi
storischer Entfernung, nämlich im Melanesien der
Kolonialzeit stattgefunden hatten. Im Zuge seiner
Universalisierung geht von dem Begriff und von
den mit ihm bezeichneten Phänomenen fraglos bis
heute eine besondere Faszination aus, so daß sich
die Frage stellt, inwieweit auch diese Faszination
auf unsere eigene Gesellschaft verweist.
Im folgenden wird zunächst die bisherige Inter
pretation von Cargo-Kulten analysiert (II). Dabei
sind die von einigen Autoren formulierten Progno
sen zu prüfen, die den Untergang der Cargo-Kulte
vorausgesagt haben (III). Erweist sich in der Ana
lyse die bisherige Fremdwahrnehmung indes als
defizitär, so führen diese Defizite zur Einsicht in
den selbstreflexiven Charakter des Begriffes und
damit zu einer Revision der Selbstwahrnehmung
(IV). Diese führt ihrerseits wiederum zu einer Re
vision der Fremdwahrnehmung und damit zu dem
Versuch, in Ansätzen ein neues Erklärungsmodell
zu skizzieren, das einen umfassenderen und da
bei zugleich differenzierteren Blick auf die bis
lang als Cargo-Kulte bezeichneten Phänomene er
laubt (V).
II
Die melanesischen Cargo-Kulte haben das Inter
esse westlicher Beobachter stets in besonderem
Maße erregt. Entsprechende Phänomene wurden
der Sache nach schon seit dem Ende des 19. Jh.s
beschrieben, dabei jedoch zunächst als propheti
sche Bewegungen nach dem Namen des jeweiligen
Kultführers, als Schwarmgeisterei, als Besessen
heitsphänomene oder gar als kollektive Hysterien
bezeichnet. Popularität gewannen diese religiösen
Erscheinungsformen in der wissenschaftlichen Li
teratur hingegen erst, nachdem man sie auf den im
Jahre 1945 zum ersten Mal verwendeten Begriff
gebracht (Lindstrom 1993: 15 ff.) und nachdem
sich dieser erfolgreich durchgesetzt hatte. Die ein
schlägige Forschungsliteratur ist heute immens, sie
umfaßt an die 400 Publikationen und beinhaltet
kürzere Berichte, auf eigenen Feldforschungen
basierende Untersuchungen sowie vergleichende
Arbeiten. 1 Hatte die ethnologische Auseinander
setzung mit Cargo-Kulten in den 70er und 80er
Jahren nach den einflußreichen Arbeiten von
Worsley (1957), Burridge (1960) und Lawrence
(1964) zunächst abgenommen, so ist in jüngster
Zeit wieder eine deutliche Zunahme des Interesses
zu erkennen. Davon zeugen neben verschiede
nen Aufsätzen, Monographien und Sonderheften
ethnologischer Zeitschriften auch die Arbeitskrei
se, die sich diesem Thema neuerdings wieder ver
stärkt auf Fachtagungen widmen. 2 Der Begriff ist
mittlerweile nicht nur in die Nachbarwissenschaf
ten, sondern auch in die westliche Populärkultur
eingegangen (Lindstrom 1993).
Nahezu jeder Ethnologe und Religionswissen
schaftler glaubt heute zu wissen, was unter Car
go-Kulten zu verstehen sei. Sie gelten, wie es
im “Handbuch religionswissenschaftlicher Grund
begriffe” heißt, gewöhnlich als “Reaktionen auf
die politischen und sozialen Erschütterungen, die
die Kolonisation Melanesiens mit sich brachte, und
auf die ökonomische und technologische Über
legenheit der Weißen” (Luchesi 1990: 191). Im
Mittelpunkt dieser Bewegungen stünde “die Er
wartung von cargo (engl. ‘Frachtgut’, ‘Schiffs-’
oder ‘Flugzeugladung’), d. h. industriell gefertig
ter, importierter Güter wie etwa Nahrungsmittel
in Dosen, Stahläxte oder auch Geld und Waf
fen für alle Kultanhänger. Die Lieferung dieser
begehrten Gegenstände wurde von Ahnen und
Geistern erhofft, mit deren Kommen grundsätzlich
eine bessere Zukunft anbrechen sollte. Sie wur
den in Kultversammlungen (häufig auf Friedhö
fen), Tänzen und Ritualen angesprochen” (Luchesi
1990: 190 f.). Die Verheißungen würden ebenso in
1 Das im Jahre 1970 publizierte Literaturverzeichnis von
Steinbauer (1970) umfaßt bereits 370 Quellen, entspre
chende - heute freilich überholte - Bibliographien haben
Leeson (1952) und Zantkuijl (1976) vorgelegt. Kürzere
Abhandlungen stammen von Chinnery und Haddon (1917),
Eckert (1937, 1940), Höltker (1946), Beishaw (1950),
Guiart (195la, 19516) und Lommel (1953), auf eigenen
Feldforschungen basierende Monographien von Burridge
(1960), Lawrence (1964), Schwartz (1962) und Kamma
(1972) und vergleichende Untersuchungen von Worsley
(1957), Jarvie (1963) und Burridge (1969).
2 Siehe Trompf (1990), Jebens (1990a, 19906), Kohl (1991),
Lattas (1992), Canberra Anthropology (1992), Kaplan
(1990, 1995) und Lindstrom (1993, 1995). Entsprechende
Fachtagungen fanden unter anderem 1992 beim First Euro
pean Colloquium on Pacific Studies in Nijmegen und 1993
bei der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde
in Leipzig statt.