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Rezensionen
Anthropos 92.1997
humanes ist, sondern z. B. auch von den Bonobo-Affen
geteilt wird.
Das Buch gliedert sich in vier große Teile: In der
sehr erhellenden Einführung der Herausgeber “Nature,
Nurture, and In-Between” wird hervorgehoben, daß es
in erster Linie darum geht, .. to highlight the mutual
and interdependent contributions that nature and nurture
render to an understanding of human sexual behavior”
und außerdem .. the development of transdisciplinary
theoretical approaches towards the problem of assessing
the relative importance of procreation and pleasure to
human sexuality” (x) zu zeigen. Der Einfluß der west
lichen, christlich-jüdischen Tradition sei ganz deutlich
zu spüren bei der Hinwendung zur Betonung der Re
produktion statt des Vergnügens. Insbesondere in den
vergleichsweise prüden USA, so läßt sich hier aus
europäischer Sicht noch hinzufügen, wird dieser Ein
fluß spürbar, wo z. B. die Gesundheitssachverständige
der Regierung, Joycelyn Eiders, Ende 1994 anläßlich
des Welt-AIDS-Tages sagte, daß Masturbation Teil der
Sexualität sei und weitere Verbreitung finden sollte,
woraufhin sie zum Rücktritt gezwungen wurde.
Die Kategorie der Sexualität ist im großen und gan
zen bisher noch inkonsistent und ausgefranst, was sich
auch in der Trennung zweier konzeptueller Dichoto
mien widerspiegelt, nämlich “... sex/gender, which too
harshly compartmentalizes the phenomena of interest
into the illusory categories of ‘the biological’ and ‘the
cultural’” (xii).
Die menschliche Sexualität hat i. allg. mehr mit
Vergnügen denn mit Fortplanzung zu tun, so daß “(a)n
understanding of human reproduction is scarcely an
understanding of human sexuality, and the missing con
ceptual key, we believe, is sexual pleasure”. Und daher
übertreffe “... the explanatory power of pleasure - as a
conceptual framework for analyzing human sexual be
havior -... that of reproduction” (10). Um dem näher zu
kommen, und nicht ständig und fruchtlos zwischen
Natur und Kultur zu unterscheiden, legen sie dem
ganzen eine interaktionistische Perspektive zugrunde,
daß menschliches Verhalten auf einer sehr komplexen
Interaktion genetischer Möglichkeiten und internalisier-
ter kultureller Einflüsse basiere: “The visceral experi
ence of pleasure is clearly biological in origin, but an indi
vidual’s choice of sexual stimuli betrays obvious cultural
biases” (11). Das ganze Buch ist voll solcher Beispiele.
Im 1. Teil werden die “Evolutionary Origins” in vier
sehr unterschiedlichen Beiträgen thematisiert, von Mary
Pavelka zu “Sexual Nature: What Can We Learn from
a Cross-Species Perspective” und Frans de Waal zu “Sex
as an Alternative to Aggression in the Bonobo”, von Kim
Wallen zu “The Evolution of Female Sexual Desire”
und Donald Symons zu “Beauty is in the Adaptations
of the Beholder”. Der 2. Teil, “Crossroads: Biology and
Behavior”, enthält den bereits oben erwähnten Beitrag
von Pattatucci und Hamer und außerdem von Jean Wil
son “Sex Hormones and Sexual Behavior” (wobei in
diesem Zusammenhang noch hinzuweisen sei auf die
wissenschaftsgeschichtlich sehr interessante Neuerschei
nung von Nelly Oudshoorn, “Beyond the Natural Body
- An Archeology of Sex Hormones” [1994], in der sie
die kulturelle Konstruktion der “Hormone” nachweist),
sowie von Heino Meyer-Bahlburg zu “Psychoneuroen-
docrinology and Sexual Pleasure: The Aspect of Sex
ual Orientation”. Der dritte Teil des Buches, “Cultural
Dimensions”, versammelt originär ethnologische Arti
kel, eine Zusammenfassung einer früheren Arbeit (1992)
von Alice Schlegel zu “The Cultural Management of
Adolescent Sexuality”, von Robert Bailey und Robert
Aunger über “Sexuality, Infertility, and Sexually Trans-
mitted Disease among Farmers and Foragers in Central
Africa”, in dem sie zeigen, daß bei einigen zentralaf
rikanischen Völkern eine deutliche Subfertilität besteht,
die u. a. auf Krankheiten zurückgeführt werden kann.
Interessanter aus ethnologischer Perspektive ist jedoch,
wie sie ihre Forschung gemacht haben, nämlich indem
sie Männer von vier Ethnien zu ihrem Verhalten be
fragten und dabei auch herausfanden, daß diese sehr
wohl mit ihren Erkrankungen umzugehen wissen und
z.T. auch ihre ganz eigenen Mittel zur Heilung anwen
den. Sie besitzen auch in weiten Teilen Erkenntnisse
darüber, wie sich ihre Erkrankung weiterverbreitet, und
verändern dennoch nicht ihre sexuellen Praktiken, was
die beiden Autoren zum Schluß kommen läßt, daß die
Förderung der sexuellen Abstinenz zur Abwendung se
xuell übertragbarer Krankheiten angesichts der Lust und
Freude, die damit einhergeht, kein Weg ist, vielmehr
entsprechende Technologien zu fördern seien, die die
Ansteckung ausschließen (Kondome, Impfstoffe) bzw.
entsprechende Medikamente zur Behandlung zur Verfü
gung zu stellen.
David Greenberg zeichnet in seinem Beitrag “The
Pleasures of Homosexuality” deren europäische Ge
schichte nach, während Donald Tuzin in “Discourse, In-
tercourse, and the Excluded Middle: Anthropology and
the Problem of Sexual Experience” die Diskussion des
Themas Sexualität mit den entsprechenden Denkverbo
ten nachverfolgt. Dem schließt sich der bereits erwähnte
Beitrag von Cohen an, und Lenore Manderson schreibt
in ihrem Artikel über “The Pursuit of Pleasure and the
Sale of Sex” über Sex-Tourismus nach Thailand, wobei
sie unterstreicht, daß diese Art von Tourismus auch von
der Regierung gewollt wird, wobei letztendlich sowohl
im Bild der thailändischen Industrie- wie der Sex-Arbei
terin eine “weibliche”, “asiatische” Eigenschaft hervor
gekehrt wird, nämlich ihre Geschicklichkeit. Der letzte
Beitrag dieses Teiles stammt von Thomas Gregor und
heißt “Sexuality and the Experience of Love”, in dem er
anhand eines Beispieles von den Mehinaku (Brasilien)
die wechselseitige Beziehung beider diskutiert und zeigt,
daß die romantische Liebe nicht nur ein europäisches
Produkt ist.
Der 4. Teil des Buches, “Quantitative Models and
Measurement”, umfaßt den Beitrag von Edward Ka
plan “Model-Based Representations of Human Sexual
Behavior”, in der die Bedeutung einer mathematischen
Beschreibung von Sexualverhalten insbesondere im Hin
blick auf formalisierte Modelle der Verbreitung sexuell
übertragbarer Krankheiten besprochen wird. Das letzte
Kapitel von Richard Berk, Paul Abramson und Paul