146
Wolfgang Kraus
Anthropos 92.1997
Verwandtschaft gleichermaßen erstrecken. Es er
gibt sich also für Radcliffe-Brown ein zwei
dimensionales typologisches Kontinuum mit drei
idealtypischen Fixpunkten, zwischen denen sich
die verschiedenen empirischen Fälle von Ver
wandtschaftssystemen einordnen lassen (1950: 81).
Diesen drei Idealtypen stellt er noch einen vierten
zur Seite, der eher empirisch, unter Bezug auf die
Existenz von Deszendenzgruppen, definiert wird
als durch die zugrundeliegenden Strukturprinzi
pien: “Relations of kinship involving rights and
duties may also be traced through both male and
female links in a double lineage System in which
the structure includes both patrilineal and matri-
lineal lineages or clans” (78 f.).
Wie verhalten sich nun Mutterrecht und Vater
recht zu matrilinearer bzw. patrilinearer Deszen
denz? Unilineare Deszendenz - erinnern wir
uns - bedeutet für Radcliffe-Brown zunächst nur
eine “Unterscheidung” gewisser Kategorien von
Verwandten. Diese auf Abstammung beruhende
Kategorisierung muß erst mit rechtlichem Gehalt
erfüllt werden, um sozial relevant zu werden.
Matrilineare oder patrilineare Gesellschaften an
sich gibt es nicht - auch nicht als Idealtyp. Was
es gibt, das ist das unilineare Prinzip, das in un
terschiedlichem Grade und auf vielfältige Weise
Anwendung finden kann.
Ist hier der rechtliche Gehalt gegenüber dem
Prinzip einer abstammungsbedingten konzeptuel
len Untergliederung der Verwandtschaft sekundär,
so ist es bei Vaterrecht und Mutterrecht umgekehrt.
Dort erscheinen die rechtlichen Dimensionen
als primär: die beiden Typen sind die extre
men Resultate unterschiedlicher Gewichtung der
Rechtsbande zwischen Geschwistern einerseits und
zwischen Ehegatten andererseits. Die maximale
Betonung des unilinearen Prinzips, das nach Rad
cliffe-Brown beide Formen charakterisiert, alleine
kann diese nicht hervorbringen; sie selbst erscheint
vielmehr als Folge des Vorhandenseins klar defi
nierter Besitzrechte an Personen und der Handha
bung dieser Rechte im Zuge der Heirat. Man sollte
sich daher auch nicht von Formulierungen wie
“the extreme emphasis on the lineage” (1950: 76)
zu dem Schluß verleiten lassen, Vaterrecht und
Mutterrecht seien für ihn durch Deszendenzgrup
pen bestimmt. Es gilt nicht: wo maximale Beto
nung von Lineages, da Vater- oder Mutterrecht,
sondern umgekehrt: wo Vater- oder Mutterrecht,
da besonders stark ausgeprägte Lineages.
Nehmen wir Radcliffe-Browns Anregung auf,
seine Idealtypen in einem typologischen Feld ein
ander gegenüberzustellen, so erleichtert uns dies,
die grundlegenden strukturellen Faktoren zu ver
deutlichen, die für ihn ein Verwandtschaftsystem
bestimmen. Mutterrecht (hier m), Vaterrecht (/)
und rein kognatisches System (c) bilden die drei
Eckpunkte, zwischen denen sich alle Systeme ein
ordnen lassen (Abb. 1). Das “double lineage Sys
tem” - hier sind seine Aussagen wenig deutlich -
wäre wohl in der Mitte zwischen m und / einzu
ordnen.
Abb. 1: Idealtypische Verwandtschaftsysteme nach Radcliffe-
Brown
Was sind nun die hier wirksamen differen
zierenden Faktoren? Auf der horizontalen Achse,
verantwortlich für den Gegensatz zwischen m und
/, ist es die Heirat mit ihren rechtlichen Folgen für
die Besitzrechte an der Frau (die für Radcliffe-
Brown den Rechten an den Kindern gegenüber
primär sind). Im Mutterrecht verbleiben diese aus
schließlich bei der Gruppe der Frau, bei double
descent (wie es gewöhnlich heißt) gehen sie zum
Teil, im Vaterrecht zur Gänze auf den Mann und
seine Gruppe über. Auf der vertikalen Achse, auf
der unilineare Systeme und kognatisches System
differenziert sind, bietet uns Radcliffe-Brown als
Kriterium die rechtliche Relevanz des unilinearen
Prinzips an - in anderen Worten, den Grad, in
dem die rechtlichen Aspekte von Verwandtschafts
beziehungen an das unilineare Prinzip gebunden
sind (so etwa 1950: 84). Doch widerspricht dies
nicht seiner Meinung, es gebe nicht an sich patri
lineare oder matrilineare Gesellschaften oder Ver
wandtschaftssysteme? Es ist wohl nicht zufällig,
daß er stattdessen zu den Begriffen Mutterrecht
und Vaterrecht greift, um seine idealtypischen Sy
steme zu charakterisieren. Wir benötigen daher ein
Kriterium, das zugleich allgemeiner und spezifi
scher ist. Zudem sollte es - so wie das erste - auf
einer Ebene angesiedelt sein, auf der die rechtli
chen Dimensionen vor den konzeptuellen Vorrang
haben.
Auch die Existenz von Besitzrechten an Perso
nen an sich ist hierzu nicht geeignet: gibt es solche
Rechte doch auch in kognatischen Systemen (Rad
cliffe-Brown 1952c: 39). Es geht hier offenbar
um etwas anderes: um den Grad der Polarisierung