Anthropos 92.1997
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Wolfgang Kraus
ist daher auch für das Französische vorgeschlagen
worden, filiation in den entsprechenden Zusam
menhängen durch descendance zu ersetzen. 1
Descent, vom lateinischen descendere, “abstei-
gen”, bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch
in einer von mehreren Bedeutungen “derivation
from an ancestor or ancestral group” (Collins Dic
tionary of the English Language, 1979). Descen
dant ist ein Verwandter in absteigender Linie, also
ein Nachfahre. Descent könnte in diesem genealo
gischen Sinn präzise als “Nachfahrenschaft” über
setzt werden und deckt sich so weitgehend mit dem
deutschen Begriff Abstammung. 2
Die unterschiedlichen kulturellen Abstam
mungsregelungen erregten schon früh ethnologi
sches Interesse. Aus westlicher Sicht fiel auf, daß,
anders als in den heimischen Gesellschaften, pa
ternale und maternale Beziehungen vielerorts nicht
als grundsätzlich gleichgeartet angesehen wurden.
Vielmehr maß man, je nach Gesellschaft, entweder
der väterlichen oder der mütterlichen Linie bevor
zugte Bedeutung zu. Oft resultierten aus dieser ein
seitigen Bevorzugung Abstammungsgruppen, die
man aus den modernen westlichen Gesellschaf
ten nicht kannte (wohl aber aus jenen der Anti
ke). Diese und ähnliche Feststellungen standen im
Mittelpunkt der frühen großen Theorien der Ethno
logie wie von H. J. S. Maine (Ancient Law, 1861),
J. J. Bachofen (Das Mutterrecht, 1861), L. H. Mor
gan (Ancient Society, 1877) und anderen. Ihre
Sicht des Phänomens der unilinearen Deszendenz
war durch zeittypische Grundannahmen geprägt.
Man ging davon aus, daß die unterschiedlichen
Deszendenzformen mit entsprechenden umfassen
den Gesellschaftssystemen korrespondierten und
daß diese Systeme Entwicklungsstufen einer uni
versellen Evolution darstellten, die in einem den
westlichen Gesellschaften entsprechenden Zustand
kulminierte. Mit diesen Theorien, deren Evolu
tionsschemata einer bald einsetzenden empirischen
Überprüfung nicht standhielten, im Einklang stand
ein Gedanke, der von dauerhafterem Einfluß war:
die Vorstellung, daß die Grundstruktur der “frü
1 So durch Verdon (1991) im “Dictionnaire de l’ethnologie
et de l’anthropologie”. Der Vorschlag kommt wohl nicht
zufällig von einem Kanadier, der auch in der anglophonen
Tradition heimisch ist. Dumont (1971), höchst sensibel für
die Schwierigkeiten der Übertragung aus einer Sprache in
die andere, behilft sich im Zweifelsfall mit dem Fremdwort,
hält aber doch am Begriff filiation fest. Um die unilineare
Deszendenz von der Filiation im Sinne Fortes’ zu unter
scheiden, prägt er den Terminus unifiliation (vgl. 1971: 48).
2 Im Deutschen bedeutet Deszendenz nach der Brockhaus
Enzyklopädie ( l7 1966-74) “Abstammung ..., Nachkom
menschaft, Verwandtschaft in absteigender Linie ...”.
hen” oder “einfachen” Gesellschaften auf Ver
wandtschaft und vor allem auf Deszendenzgruppen
beruhte (vgl. Kuper 1982: 73-76).
Bis heute wird die Deszendenz meist im Hin
blick auf die durch sie konstituierten Gruppen
bestimmt. In modernen ethnologischen Nachschla
gewerken etwa werden nicht selten Deszendenz
und Deszendenzguppen nahezu gleichgesetzt. So
definiert Winthrop (1991: 75) descent als: “The
cultural principles by which group membership,
with its rights and obligations, is determined by
relationship to a specified ancestor, putative or real.”
Ähnlich Seymour-Smith (1986: 73): “Descent
has conventionally been defined in anthropology
as a principle of transmission of group member
ship: descent rules are the rules which in a given
society assign membership in a kin group, which
is thus referred to as a descent group.” 3 Diese
Basisdefinitionen (denen jeweils eine ausführli
chere Diskussion folgt) stützen sich - die erste
implizit, die zweite explizit - auf den wohl er
sten Versuch, dem Begriff der Deszendenz für
anthropologische Zwecke einen präzisen Inhalt zu
geben. Diese bis in die Gegenwart einflußreiche
Definition stammt von W. H. R. Rivers; zitiert
wird sie zumeist nach einer posthum erschiene
nen Zusammenstellung seiner Vorlesungen (Rivers
1924).
Rivers und seine Definition
Irritiert durch die in der Anthropologie seiner Zeit
übliche Verwendung der Bezeichnung descent für
“processes which are entirely distinct from one
another” (1924: 85), schlägt Rivers vor, die Über
tragung der Mitgliedschaft in sozialen Gruppen
von einer Generation auf die nächste von der
Übertragung von Besitz und der von Rang oder
Ämtern zu unterscheiden. Descent soll sich dem
nach ausschließlich auf die Gruppenmitgliedschaft
beziehen; die Weitergabe von Besitz nennt er in
heritance, jene von Rang oder Amt succession.
Jeder dieser Prozesse kann patrilinear oder ma-
trilinear erfolgen, sie müssen aber nicht parallel
ablaufen (1924: 85—88). Die Anwendung des Be
griffes descent erscheint Rivers nur dann gerecht
fertigt, wenn es sich um “unilaterale”, also nach
3 Nimmt man diese Formulierung wörtlich, so wäre jede kin
group zugleich eine descent group, falls der Mitgliedschaft
in ihr Regeln zugrundeliegen. Dies ergibt sich daraus,
daß die allgemeine Bedeutung von descent als “Abstam
mung” offenbar vorausgesetzt wird und daher ein Hinweis
auf genealogische Zusammenhänge fehlt.