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Berichte und Kommentare
Anthropos 85.1990
Weiss, Florence
1981 Kinder schildern ihren Alltag. Die Stellung des Kindes
im ökonomischen System einer Dorfgemeinschaft in
Papua New Guinea. Basel.
Weiss, Florence et al.
1984 Gespräche am sterbenden Fluß. Ethnopsychoanalyse bei
den latmul in Papua Neuguinea. Frankfurt.
Das Problem des Anderen in der
Darstellung ethnologischen Verstehens
Bernd Mitlewski und Sylvia M.
Schomburg-Scherff
Arbeitet man sich durch neuere wissenschafts
theoretische Studien, die sich die Ethnologie zum
Thema genommen haben, 1 fällt auf, daß sie in
der Regel eine innere Zweiteilung der von dieser
Disziplin produzierten Texte diagnostizieren. 2
Dem einen Teil wird gewöhnlich die tradi
tionell-realistische Ethnographie zugeordnet - ei
ne wissenschaftliche und literarische Gattung, die
sich etwa in der Zeit zwischen 1900 und 1960 eta
blierte. Diese, von einem Spezialisten verfaßte und
auf teilnehmender Beobachtung basierende Kultur
beschreibung folgte ganz bestimmten, hier nur
kurz zusammengefaßt wiedergegebenen Gattungs
konventionen 3 : Die Geschichte der Forschung war
meist lediglich implizite Erzählstruktur; die textli
che Organisation war sequentiell (d. h., dem kom
plexen Ganzen einer Kultur versuchte man mit Hil
fe seiner Teile - Sozialstruktur, Politik, Ökonomie,
Religion - habhaft zu werden); der ethnographi
sche Bericht erweckte den Eindruck einer „objek
tiven“ Darstellung, indem das Ich des Autors/Er
zählers hinter dem wissenschaftlichen Beobachter
und der individuelle Andere hinter der dritten Per
son Plural („die Trobriander“, „die Nuer“) ver
schwanden; er tat so, als ob die fremde Kultur
aus der Perspektive der Einheimischen beschrieben
1 Z. B. Marcus and Cushman 1982; Clifford 1983 (deutsch
1988); Marcus and Fischer 1986.
2 Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten auf der
Sektionstagung 1988 zum Thema „Textformen und Darstel
lungsprobleme ethnographischer Erfahrungen und herme-
neutischer Interpretationen“ der Sektion „Sprachsoziologie“
der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
3 Eine eingehendere Analyse dieser Gattungskonventionen
bzw. Schreibstrategien findet sich bei Marcus and Cushman
1982: 31-37; Clifford 1983 (1988); Geertz 1988.
würde; sein Stil war generalisierend-typisierend;
er bediente sich eines spezifischen Jargons (zur
rhetorischen Demonstration ethnographischer Au
torität) und versuchte den Leser, wie indirekt auch
immer, von der Vertrautheit des Feldforschers mit
der fremden Sprache (Demonstration sprachlicher
Kompetenz als Garant ethnographischer Authenti
zität) zu überzeugen.
Dem anderen Teil werden neuere Praktiken
ethnographischen Schreibens zugeordnet, die sich
in kritischer Auseinandersetzung mit den bis da
hin gültigen Darstellungsformen vor allem inner
halb der interpretierenden Ethnologie etwa seit
1950 entwickelt haben. Diese überwiegend als ex
perimentell bezeichneten Ethnographien zeichnen
sich, kurz gesagt, durch den bewußten Umgang mit
Schreibstrategien und Darstellungsmitteln aus. Sie
machen sowohl die Interpretation einer anderen
kulturellen Realität als auch den Forschungspro
zeß selbst explizit, beschäftigen sich eher mit Ein
zelaspekten einer Kultur, reflektieren das subjek
tive Beteiligtsein des Forschers am Zustandekom
men seiner Erkenntnisse, präsentieren diskursive
Prozesse in der Form eines Dialogs zwischen dem
Ich und dem Anderen, stellen den gesamten Ver
lauf der Forschung als ein fortlaufendes Verhan
deln, d. h. als eine gemeinsame Produktion ethno
graphischen Wissens von Forscher und Informan
ten dar oder experimentieren mit mehrfacher Auto
renschaft. Obwohl einige dieser neueren ethnogra
phischen Texte gelegentlich in „poetische“, also
„nichtwissenschaftliche“ Darstellungsformen aus-
weichen, 4 ist ihre überwiegende Mehrzahl dennoch
innerhalb der Grenzen, allenfalls an den Rändern
einer realistischen Kulturwissenschaft anzusiedeln,
wie Clifford (1983 [1988]) feststellt.
Diese Unterscheidung in traditionelle und mo
derne ethnologische/ethnographische Texte kann
fruchtbar sein, wenn sie dazu führt, die ihr zu
grundeliegenden veränderten historischen und po
litischen Bedingungen sowie die veränderten Er
kenntnisinteressen zu untersuchen. Denn sowohl
die Welt, die Ethnologen für gewöhnlich erfor
schen und die man früher primitiv, tribal, tradi-
tional oder naturvölkisch genannt hat, als auch die
Welt, für die Ethnologen ihre Forschungen betrei
ben - die Welt der Wissenschaft -, haben sich seit
Beginn dieses Jahrhunderts verändert (siehe Geertz
1988: 131-138). Mit dem Ende des Kolonialismus
ging nicht nur das Ende des Szientismus einher,
sondern eine andere - „postmodeme“, „postkolo
niale“ - Zeit ließ auch andere narrative Formen
4 So etwa Carlos Castanedas bei ethnologischen Laien belieb
te, bei Fachleuten aber meist verpönte „Don-Juan-Serie“.