Robert Pfaff-Giesberg, Mannheim
ERNST GROSSE
Der Name Ernst Grosse hat in der Wissenschaft einen guten Klang. Das Beson
dere und Bleibende im Wirken des Freiburger Ethnologen und Kunsthistorikers
bestand vorzüglich darin, daß er als einer der ersten zu wichtigen, bis heute gültig
gebliebenen ordnenden Vorstellungen über die Welt der Naturvölker in soziolo
gischer wie kunstwissenschaftlicher Hinsicht gelangte. Darüber hinaus verbreitete er
in außerordentlich erfolgreicher Weise das Verständnis für das Wesen der ost
asiatischen Kunst und Kultur. In der Breite wie in der Tiefe seines Schaffens doku
mentierte sich ein Geist von universellem Wissen und seltener Weisheit.
Die Persönlichkeit des illustren Mannes, dessen Tod sich nun bald zum dreißig
sten Male jährt, den jüngeren Fachkollegen nahezubringen, war wohl das wichtigste
Motiv für den Herausgeber von „TRIBUS“ mich um einen, aus vertrautem Um
gang erwachsenen, biographischen Beitrag zu bitten.
Ich hatte das Glück, Ernst Grosse im Jahre 1919 in einem privaten Kreise meiner
Heimatstadt Freiburg im Breisgau vorgestellt zu werden. Die stattliche, gepflegte
Erscheinung des zu jener Zeit trotz aller Zurückgezogenheit hoch angesehenen Ge
lehrten hat mich damals sogleich nachhaltig beeindruckt. Als ich mich einige Jahre
später anschickte, meine völkerkundlichen Studien an der Freiburger Universität
zum Abschluß zu bringen, fand ich in Professor Grosse nicht nur einen idealen
Hochschullehrer, sondern weit darüber hinaus einen väterlichen Berater und wirk
lichen Freund. In den wirren Zeitläufen während der Inflation vor allem entstand
in fast täglichem Beisammensein mit ihm ein immer von neuem anregender Aus
tausch der Gedanken und ein Umgang, wie man ihn sich ähnlich vielleicht zwischen
Meister und Schüler in den Philosophenschulen des Altertums vorstellen mag.
Ernst Grosses Stellung zum Dasein war nachdrücklich geformt durch eine Jahr
zehnte währende innige seelische Verbundenheit des im Grunde höchst aktiven und
temperamentvollen Abendländers mit der reichen und zuchtvollen Ethik der großen
asiatischen Tugenderzieher. Vor allem fühlte er sich den Leitsätzen der konfu
zianischen Lebenspraxis und den Ideen des ursprünglichen Buddhismus verbunden.
Allerdings war es nie seine Sache, Glaubensbekenntnisse auszusprechen. Indes ge
hörte Grosse zu jenen Menschen, deren Herz und deren Neigungen in ihrem Äus
seren sich deutlich widerspiegeln. Trotz des unverkennbar germanischen Schnittes
seiner Züge gemahnten diese vor allem im späteren Alter in seltsam verblüffender
Weise an die Bildnisse, die die ostasiatische Malerei von chinesischen und japani
schen Würdenträgern und Heiligen, Kaisern und Weisen geschaffen hat; viele jener
Gesichter zeigen dieselbe ruhevolle und »wohlwollende Ironie«, die auch Ernst
Grosse in so starkem Maße zu eigen war. Vor der Erhabenheit alles Geschaffenen
hegte Grosse eine heilige Ehrfurcht; er fühlte die Verpflichtung in sich, nie das
harmonische Gleichgewicht der Dinge, auf dem nach östlicher Meinung der ersprieß
liche Ablauf des Lebens im Kosmos allein beruht, zu stören; in ihm wohnte die
„Höflichkeit des Herzens, die feinste und höchste Freiheit“, um deretwillen Richard
Wilhelm die Chinesen so besonders liebte.
8 Limlen-Museum