Lucas E. Staehelin von Mandach, Bern
VON DER ERDE UND VOM HIMMEL
Eine Maori-Legende, nacherzählt.
„Das war einmal alles nicht“, sagte mir ein alter Maori, während er seinen Blick
über Felder und Wälder zum Horizont hin schweifen ließ. „Das alles gab es ein
mal nicht“, wiederholte er und begann zu erzählen:
„Damals gab es weder Tag noch Nacht. Es gab auch keine Sonne, auch keinen
Mond, und niemand wußte etwas von bebauten Feldern, von Wäldern, von Sand
und vom Meer. Das alles gab es nicht — damals als der Himmelsvater Rangi in
den Armen lag von Papa, der Erdmutter. Siehst du die Sandkörner dieses Meeres
strandes? So viele Jahre wie es hier Körner gibt, so viele Jahre hielten sie sich
umschlungen. Sie hatten 70 Kinder, alles Knaben, doch diese Kinder mußten im
Finstern tastend ihre Wege suchen. Diese Welt der Kinder von Rangi und Papa
hatte eben kein Licht, das leuchtet und wärmt; auch keinen Wind; einfach nichts.
Die Kinder waren ganz blaß. Sie sehnten sich, aus dieser engen Welt heraus
zukommen. Es ist auch langweilig: immer nur dunkel, immer tasten, nie Wind,
immer nur — nichts. Das ist sogar sehr langweilig. So kamen sie einmal zusam
men, sie, die Söhne des Himmels und der Erde. Sie krochen durch ihre Höhle zu
einem Platz. Dort wuchsen einige Bäume. Diese hatten sonderbare Äste, seltsame
Formen, die man aber nicht sehen konnte, sie waren nur zu ahnen und dann tastend zu
erkennen. Sie berieten, was zu tun sei, um dem Übel der Dunkelheit ein Ende zu bereiten.
Diese Kinder waren ja keine Säuglinge mehr und so fragten sie sich: Sollen wir
Vater und Mutter töten oder auseinander reißen?
„Töten“, schrie Tu matauenga. Tu matauenga ist der Gott des Krieges.
Da aber stand Tane mahuta auf. Er richtete sich ganz auf, und sein Kopf stieß
an den Himmel. Tane mahuta ist der Gott der Bäume. Die Bäume haben ihre
Wurzeln in der Erde, und deshalb liebte er die Erde, seine Mutter Papa. Tane
mahuta sagte nachdenklich, doch mutig: „Nein, wir wollen nicht töten. Vater und
Mutter töten ist schlecht. Wir können aber versuchen, den Himmel wegzuwerfen.
Dann können wir am Herzen der Erde leben.“
Seine Brüder waren dafür. Nicht dafür warTawhiri matea, der Gott der Winde.
Er wandte sich gegen seinen Bruder und sagte schroff: „Das ist leeres Geschwätz.
Wir haben es gut hier. Niemand kann uns Schaden zufügen. Wir dürfen nichts tun.
Sie sind unser Vater und unsere Mutter. Du sagtest selbst so.“
„Aber wir müssen Licht haben“, schrien nun alle erregt. „Wir wollen Licht.“
Und einer rief; „Ich bin des Kriechens müde. Raum will ich haben, keine Höhlen.
Ich will meine Glieder strecken.“ „Ja“, schrie ein anderer, „Licht und Raum. Das
befreit uns.“ Sie stießen Tawhiri matea weg.
Es war dunkel. Alle hörten den schweren Atem von Rangi, dem Himmelsvater.
Der erste, der seine Schultern gegen den Himmelsleib stemmte, war Tangaroa.