Rezensionen
321
Anth
tropos 79.1984
manns sind die bei diesen Ritualen verwendeten Schnüre
(kirugu) aus Hibiskusfasern, die sechs bis acht Meter lang
u nd mit einigen Dutzend großen sowie einem Vielfachen
davon an kleinen Knoten besetzt sind. Sie werden von den
Rlanhäuptern, den „alten Krokodilen“, im Geheimen ver
fahrt, die sie sich bei den Aufführungen des sagi-Gesangs
zyklus in der Art eines Rosenkranzes durch die Finger gleiten
lassen, wobei sie die geheimen Totemnamen schweigend
Memorieren und bestimmte, mit ihnen verbundene Texte
laut vortragen. Diese Knotenschnur ist ein mnemotechni
sches Hilfsmittel, ohne das man sich ein derart komplexes
Wissenssystem in der Tat kaum vorstellen könnte. Die
großen Knoten stehen für bestimmte mythische Geschehnis
se und mit diesen verbundene geographische Orte, die
kleinen Knoten, die ihnen vorangestellt sind, bedeuten Serien
v on Namen. Die Knotenschnur ist aber auch ein zentraler
Ruitgegenstand; sie ist die Urzeit, die in Form einer
Wanderung gedacht wird, selbst. „Es existiert nur ein
Wissenssystem, weil es die r«g«-Knotenschnur gibt, und
der sdgi-Gesangszyklus ist nichts anderes als deren musika
lische Darstellung“ (52).
Nach einer kurzen Einleitung über die Umwelt und die
Sozialstruktur des Dorfes Kandingei konzentriert sich die -
s °rgfältig ausgearbeitete und gut geschriebene - Darstellung
auf das „totemistische System“. Den Hauptteil des Buches
bildet die detaillierte und faszinierende Analyse der Struktur
der Gesangszyklen bzw. Knotenschnüre. Dafür wird bei-
s pielhaft einer der sechs in Kandingei vorhandenen Zyklen
Wangezogen, der im Anhang auch in latmul mit einer
deutschen Interlinearübersetzung abgedruckt ist. (Die übri
gen fünf Zyklen sollen in gleicher Weise in einem Folgeband
Publiziert werden.) In der Erläuterung zu diesem Zyklus,
^ofür die verschiedenartigsten Teilaspekte von Kultur und
Gesellschaft miteinbezogen werden, gelingt es Wassmann zu
demonstrieren, daß es sich hier wirklich, wie Bateson
an genommen hatte, um ein „theoretical image of the whole
^ulture“ handelt. Es ist nicht leicht, dieses Bild herauszuar-
“eiten. Die Zyklen bzw. Knotenschnüre ähneln sich und
bestätigen einander nur in ihrer ersten, schöpfungsgeschicht-
llc hen Partie. Die folgenden Partien, welche die besonderen
Rlanmythologien und -geschichten enthalten, sind nicht nur
ineinander verschieden, sondern widersprechen einander
au ch. Zu der auch sonst in Neuguinea üblichen Trennung
zwischen exoterischem und esoterischem Wissen fügen die
latmul noch eine besondere „Verfremdungstechnik“: „Die
einzelnen Mitteilungen werden aus dem Gesamtzusammen
hang herausgerissen, sämtliche Beziehungen zwischen den
splitterartig hingeworfenen Detailinformationen werden
bewußt verschleiert, Unbedeutendes wird in den Mittel
punkt gerückt, Wichtiges wird an den Rand geschoben, und
durch eine Fülle von Namen und Totems wird absichtlich
Verwirrung gestiftet“ (105 f.). Dennoch ist ein Gesamtzu
sammenhang gegeben. Er zeichnet sich hinter so vielen
Verfremdungen und Widersprüchen wenigstens für die
Hüter der Knotenschnüre deutlich ab und kann im Vertrauen
darauf auch von den übrigen Dorfmitgliedern unterstellt
werden. Herausgearbeitet wird er jedoch von den latmul
nicht; das ist nur durch die geduldige und liebevolle
Kollation der verschiedenen Klanversionen möglich, eine
Arbeit, die Wassmann als erster geleistet hat.
Sicher bleibt noch viel zu tun, in diesem wie in anderen
latmul-Dörfern. Aber schon das, was wir heute wissen,
deutet auf ein Weltbild von solcher Fülle und Geschlossen
heit hin, daß man den Vergleich etwa mit dem Weltur
sprungsmodell der westafrikanischen Dogon, wie Marcel
Griaule es beschrieben hat, nicht zu scheuen braucht. Leider
ist die ethnologische Aufnahme solcher Weltbilder, und
vielleicht überhaupt auch ihre systematische Formulierung,
erst im Augenblick der Auflösung der betreffenden Kultur
möglich. So war es bei Griaule, so ist es auch bei Wassmann:
„Die wenigen Männer, die mir die geheimen Namen
verrieten (es waren insgesamt drei), wurden bei der Preisgabe
von Weinkrämpfen geschüttelt“ (61). Aber immerhin hatten
sie erkannt, daß es jetzt an der Zeit war, das Geheimwissen
den Ethnologen preiszugeben. Wie die Philosophie, wie
überhaupt jede begriffliche Spekulation, kommt die Ethno
logie immer zu spät. In der Vorrede zu seinen „Grundlinien
der Philosophie des Rechts“ hat Hegel gesagt, „daß erst in
der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber
erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz
erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reiches erbaut. Wenn
die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt
des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich
nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva
beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“
(xxiv). So auch der fliegende Hund. Justin Stagl