Politische Verhältnisse einer Stammesregion in Südwestiran
Burkhard Ganzer
Abstract. - Social-anthropological accounts of the political
systems of Iranian tribal societies largely neglect the intertribal
dimension of the political complex. The tribes’ relations with
the central state, on the other hand, are usually conceptualized
in terms of a middlemen model which seems rather undiffer
entiated. The present article, drawing mainly on more recent
Iranian literature, offers a sketch of the political conditions
formerly prevailing in the tribal region (since 1976 province
[ostän]) of Kohgiluye wa Boyr-Ahmad. By discussing the
relations of the tribes with one another, with the central state
and with the British on the one hand, and the impact of certain
traits of the social organization on these relations on the other,
the article tries to give an idea of the complexity of the field in
which the leaders of these “encapsulated” tribal societies acted.
[Iran, Boyr-Ahmad, tribal societies, political system, khans]
Burkhard Ganzer, Dr. phil. Tübingen. - Feldforschung 1996—
97 in Südwestiran. - Publikationen u. a.: Kategorie und Ver
wandtschaftsterminologie in der Theorie der präskriptiven
Allianz (Frankfurt 1979); Altruismus, Egoismus, Interaktion.
Bemerkungen zu M. D. Sahlins Reziprozitätskontinuum {Zeit
schrift für Ethnologie 1981); Lewis Henry Morgan. In: W.
Marschall (Hrsg.), Klassiker des anthropologischen Denkens
(München 1990); Kulturelle Distanz und “ethnographic refus
al”. Zur Ethnographie iranischer Nomadengesellschaften (An-
thropos 2000); siehe auch Zitierte Literatur.
I
Als das charakteristische Merkmal der politischen
Systeme der iranischen Stammesgesellschaften,
wie sie in Rudimenten noch in den fünfziger Jah
ren des vorigen Jahrhunderts anzutreffen waren,
ist seit langem die Koexistenz von Mechanis
men segmentärer Machtbalance mit zentralisiert-
autokratischer Herrschaft, verkörpert in den Stam
mesführern (Khanen [hän]) 1 , und die Erweiterung
und Modifizierung der tribalen Rolle dieser Führer
durch bestimmte Aufgaben und Rechte, die ihnen
der Staat und in bestimmten Fällen ausländische
Mächte (Großbritannien) übertrugen, hervorgeho
ben worden. 1 2 Da diese Systeme zu der Zeit, da
die moderne ethnographische Forschung in Iran
einsetzte, nicht mehr, oder nur sehr eingeschränkt,
in Funktion waren, fiel die Aufgabe ihrer Beschrei
bung den Historikern zu, und Ethnologen nur, so
weit sie hierbei ebenfalls weitgehend als Historiker
fungierten (siehe z. B. Tapper 1974, 1991). Als
Wiedergabe von Ereignisabfolgen und konkreten
Entwicklungsprozessen stellen die Beschreibungen
daher häufig historische Berichte dar. Das betrifft,
wegen der für sie existierenden detaillierten Ar
chivdokumentation, im besonderen die Beziehung
zu den Briten (siehe z. B. Cronin 2000, Oberling
1970), gilt in anderer Weise aber auch für die
Lokaltraditionen. Wo jedoch Beschreibungen ei
ne eigentliche Analyse anstreben, ist diese mei
stens struktural in dem Sinne, daß sie den Status
und die Rolle der Stammesführer zu bestimmen
sucht, d. h. erläutert, welche Pflichten und Befug
nisse diese Führer hatten und welcher Art ihre
Leistung war - im Verhältnis zum Stamm mit
seinen Untergruppen und -führern einerseits, zum
Staat und sonstigen außertribalen Mächten ande
rerseits.
Auf das früheste und zugleich einflußreichste
Beispiel einer solchen Analyse, Fredrik Barths
Buch über die Basseri [Basen] (1964), trifft die
1 Das Wort ist nicht bei allen Stämmen Irans, aber bei den
in diesem Aufsatz behandelten gebräuchlich.
2 Vgl. Fazel 1973; Garthwaite 1981, 1983; Brooks 1983;
Digard 1987; Beck 1990.