War Johann Jakob Bachofen Evolutionist?
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L. H. Morgan u. a. auseinander. Im Jahre 1873 begann er mit der Nieder
schrift einer großen Abhandlung über den Avunkulat in der klassischen,
germanischen und indischen Welt; von da ab gingen bis in das Jahr 1885
Studium und Niederschrift der Forschungsergebnisse Hand in Hand neben
einander her. Seine Arbeiten über Indien sind ohne Beispiel und in diesem
Umfange ohne Nachfolge. Aus der Fülle der Entwürfe veröffentlichte er im
Jahre 1880 den ersten Band der ,Antiquarischen Briefe', 1885 (vordatiert 1886)
den zweiten; beide sind mit ihrer winzigen Auflage von 125 Exemplaren
nahezu unbekannt geblieben. Von dem Fleiß und der schwungvollen Energie,
mit der der Vierundfünfzigjährige die neue, gewaltige Aufgabe durchgeführt hat,
vermittelt das Publizierte einen ganz unzureichenden Eindruck. Erst durch
die Erschließung des Nachlasses zu den Antiquarischen Briefen' ist diese
Epoche ins Licht gerückt und Bachofens volle Hinwendung zur Völkerkunde
erstmals richtig sichtbar geworden. Bevor jedoch von dieser Grundlage aus
seine Auseinandersetzung mit den Religionen und Kulturen der Erde, sein
Ringen mit den Problemen der jungen vergleichenden Soziologie und seine
geistige Entwicklung zuverlässig geschildert werden können, muß das alte
Bachofenbild überprüft und in einigen wesentlichen Punkten ergänzt oder
korrigiert werden. Nur um die Lösung dieser Aufgabe bemüht sich der vor
liegende Artikel.
Sol Tax 5 stellt vier Faktoren heraus, die in ihrem Zusammenwirken
zur Geburt der „historisch-evolutionistischen Schule“ in der Anthropologie
beigetragen haben:
1- Das „intellektuelle Klima“ des neunzehnten Jahrhunderts - die materialistische
Philosophie, welche bei der Begründung der Soziologie durch positivistische Denker
wie Comte und Spencer Pate gestanden - in Verbindung mit den Fortschritten in der
Biologie, die mit dem Namen Darwin unlöslich verknüpft sind.
2. Die Untersuchungen Bachofens und Maines über die klassischen und vorhistorischen
Zeiten, die in der evolutionistischen Interpretation der ältesten und zeitgenössischen
Gesellschaft gipfeln.
3. McLennan, der auf der Grundlage umfassenden ethnographischen Materials zu einer
evolutionistischen Deutung der sozialen Institutionen der Menschheit gelangte.
4. Lewis Henry Morgan, dessen Untersuchungen über die Verwandtschaftssysteme
der Menschheit bahnbrechend waren 5 6 .
Das ,Mutterrecht', in welchem Bachofen die These aufstellt, daß die
Entwicklung der Menschheit vom Mutterrecht zum Vaterrecht erfolgt sei,
wobei er die mutterrechtliche Entwicklungsstufe in eine frühere „hetärische“
und eine spätere „gynaikokratische“ unterteilt, wird also zu den Werken
gerechnet, die den Durchbruch der modernen Ethnosoziologie bezeichnen.
5 From Lafitau to Radcliffe-Brown. In; Fred Eggan [ed.], Social Anthropology
of North American Tribes. Chicago 2 1955, S. 445-481.
6 Ebd., S. 451; „These four factors were not entirely independent; in a general
way, the first was a condition of the other three, but to what extent and in what way, it
would be fruitless to inquire.“ Es wird unten nachgewiesen, dab diese Annahme fur
Bachofen nicht zutrifft.