Thomas S. Barthel
Zwei weitere Häuptlingsgenealogien von der Osterinsel
In einer früheren Studie habe ich die damals bekannten Materialien genealogischer
Art von der Osterinsel zusammengestellt und kritisch gewürdigt 1 ). Inzwischen hat nun
Lanyon-Orgill aus seiner reichen Manuskriptsammlung zwei weitere Listen mit Häupt
lingsnamen veröffentlicht, die eine willkommene Ergänzung bieten, und deren Unter
suchung nach der linguistischen und historischen Seite hin angekündigt 2 ). Uns ist an
dieser Stelle vor allem daran gelegen, die bisherige eigene Position zu überprüfen. An
gesichts gewagter Versuche, wohlbekannte Genealogien für die Deutung von Rongo-
rongo-Texten heranzuziehen und umzudeuten 3 ), erscheint es angebracht, alle tradi
tionellen Daten sichtend und wägend zu kollationieren.
Für die Nomenklatur der bekannten Listen verweise ich auf meinen früheren Auf
satz. Dort trägt jede Genealogie einen Kennbuchstaben (nach der Quelle), jeder Name
eine Kennziffer (nach seiner Position innerhalb der Liste). Zum Vergleich stehen die
Listen von Roussel (R 1—R 23), Jaussen (J 1—J 32) und Thomson (T 1—T 57) zur
Verfügung, ferner standardisierte Genealogien aus Quellen des 20. Jahrhunderts, von
denen die Version Metraux (M 1—M 30) stellvertretend herangezogen werden soll.
Die erste der neuen Listen (Slg. Lanyon-Orgill, Ms. Polyn. 623) stammt von
/. L. Palmer, der 1868 als Schiffsarzt der „Topaze“ die Osterinsel besuchte. Sie umfaßt
13 Namen und wird von mir unter dem Kennbuchstaben P (= Palmer) registriert.
Tafel 1 stellt die Parallelen mit dem bekannten Namensgut zusammen. Die Palmer-
Liste reicht vom Führer der Einwanderer, Hotu-matua, aus keineswegs bis zu den
Herrschern des 19. Jahrhunderts, sondern endet schon vorher. Abgesehen von einem
Einschub (P 4—P 5) stimmt sie in der Namensfolge genau überein mit dem Beginn der
modernen Listen. In dieser Hinsicht bereichert sie unser Wissen nicht, läßt aber doch
erkennen, daß dieser „moderne“ Traditionsfundus schon relativ früh festgelegt sein
muß. Die neuen Namen „Mirumiru“ und (korrigiert) „THHtuu-maha“ fehlen in den
bisher veröffentlichten Listen; die Lesart „Ihuhu“ leitet sich durch Reduplikation von
der Normalform „Ihu“ ab. Die Genealogie P läßt unsere früheren Folgerungen prak
tisch unberührt.
Anders bei der zweiten, neu veröffentlichten Liste (Slg. Lanyon-Orgill, Ms. Polyn.
625). Sie gehört zu den bisher nicht publizierten und für verschollen gehaltenen Feld-
! ) Barthel „Häuptlingsgenealogien von der Osterinsel“, in: Tribus Nr. 8, S. 67—82,
Stuttgart 1959.
2 ) Lanyon-Orgill „Two Easter Island Genealogies“, in: Journal of Austronesian
Studies Vol. II Part 1, p. 8—10, 1960.
3 ) Bntinow „Korotkouchie i Dlinnouchie na Ostrowe Paschi“ (= „Kurzohren und
Langohren auf der Osterinsel“), in: Sowjetskaja Etnografija 1960, No. 1, S. 72—82.