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BESPRECHUNGEN UND BÜCHEREINGÄNGE
sondern einzig und allein um die Fähigkeit von Zau
berern, mystische Stacheln aus ihrem Leibe zu versenden,
um jemand dadurch krank zu machen, oder von ent
sprechend zugefügten Krankheiten zu heilen. Die dabei
gebrauchten Selbstkasteiungen und Selbstvergiftungen,
die auch bei der Mannbarkeit oder vor großen Unter
nehmungen angewandt werden, müssen nach dem Ver
fasser „als ein Versuch aufgefaßt werden, die geistigen
Kräfte, die der Auffassung und des Willens, die andere
Rassen schon von Natur besitzen, aus der zähen Materie
des rückständigen Gehirns herauszuheben.“
Auch über die Heilung von Krankheiten durch besondere
Mittel, von denen einige magischer Natur sind, und über
die Phasen des sozialen Lebens erfahren wir manches. „Daß
auf dem Gebiet des Rechtslebens Auswüchse — Ver
brechen — fehlen, liegt an der für den Indianer bezeich
nenden Eigenschaft der Gleichgültigkeit.“ Indessen ist
der Hauptteil des Buches der Darstellung der materiellen
Kultur gewidmet, die geschickt, um den Leser nicht zu
ermüden, mit seinen persönlichen Erlebnissen durch
flochten ist. Hausbau, häusliche Geräte, Waffen, Klei
dung, Schmuck, Spinnen, Weben, Flechten, Töpferei,
Ackerbau, auch Spiele lernen wir in großer Ausführlich
keit kennen, wobei namentlich der museale Teil Be
achtung erfährt. Sorgsam sind dabei die Tätigkeiten des
Mannes und der Frau getrennt. Sogar über die Zuberei
tung der Speisen erfahren wir dankenswerterweise weit
mehr, als man in solchen Büchern gewohnt ist. Ein
Kapitel gibt auch über die sehr primitive und interes
sante Sprache Aufschluß. Alles in allem ein Buch, das
sich in der Fülle der mitgeteilten Tatsachen würdig an die
deutschen völkerkundlichen Bücher über Südamerika
reiht, wenn man sich dem Standpunkt des Verfassers
auch nicht in der Gesamtauffassung anschließen kann
und daher der Darstellung der geistigen Kultur ein Frage
zeichen anhängen muß. Wir wünschen dem Verfasser,
daß er sein übriges Material in entsprechender Weise ver
öffentlichen kann, und er möge sich dazu stets gegen
wärtig halten, daß die amerikanistische und völkerkund
liche Wissenschaft seine Mühen mit großer Anteilnahme
begleitet.
K. Th. Preuß, Berlin.
Eckart von Sydow, Primitive Kunst und Psychoanalyse,
eine Studie über die sexuelle Grundlage der bilden
den Künste der Naturvölker. (Internationaler Psycho
analytischer Verlag, Leipzig 1927.)
Sydows Arbeit hat das weitgesteckte Ziel, die For
men der naturvölkischen Kunst nicht in Be
ziehung zueinander oder zum Material oder zu ihren In
halten oder zur Gesamtkultur zu setzen und daraus zu
erklären, sondern auf unbewußte seelische Ab
läufe im Sinne der Psychoanalyse zurückzu
führen. „Der Gedankengang unserer Überlegungen wird
von der Voraussetzung ausgehen müssen, daß die Formen
sprache der bildenden und architektonischen Kunst die
latente, verborgene Form durch eine manifeste, vorder
grundhafte überdeckt.“ (S. 44.) Die Aufzeigung dieser
latenten Formen, der „Urbilder“, betrachtet S. als seine
Aufgabe. Wenn diese Zurückführung der manifesten
Formen auf latente nicht als etwas Künstliches, bereits
als Voraussetzung aus einem anderen Arbeitsgebiet
Hereingetragenes erscheinen soll, so ist es unerläßlich,
zu zeigen, daß diese manifesten Formen in sich etwas
wirklich Problematisches haben, und nicht nur gegen
über der Formensprache unserer Kunst (denn möglicher
weise könnte ja gerade diese das eigentlich Erklärungs
bedürftige sein), und daß die bisher in der Ethnologie üb
lichen Methoden zur Erklärung tatsächlich unzureichend
sind. Daraus würde sich die Notwendigkeit zu einer prin
zipiellen Diskussion über die Möglichkeit und Berechti
gung der Anwendung psychoanalytischer Methoden auf
die Erklärung der formalen Seite der primitiven Kunst
ergeben. Keine dieser Aufgaben hat S. in irgendeiner
Weise erfüllt — er hat vielleicht auch ihre Notwendigkeit
nicht eindringlich genug gesehen. So ist S.’s Schema (bei
Baukunst, Plastik, zeichnerischen Künsten und Körper
kunst) das der vielen kleinen Schüler des großen Freud:
zunächst stellt man, reichlich krampfig, „Tendenzen“
auf, wundert sich über ihre „merkwürdige Beharrlichkeit“
und stellt fest, daß in ihnen „ein inneres Prinzip von einer
Mächtigkeit gewaltet haben muß, daß allen inneren und
äußeren Einflüssen siegreichen Widerstand leistete. Kein
rein historisches Moment kann solche Allgewalt ausüben,
sondern nur eine unbewußte, organisch gegebene und
bluthaft wirksame Tendenz des menschlichen Daseins.“
Man fragt also: „Wo ist die erotische Zone zu
suchen, in welcher der plastisch (bzw. architektonisch
oder zeichnerisch) sich äußernde Instinkt der Natur
völker wurzelt ?“ (S. 98) — und daß dann der „Kenner
der psychoanalytischen Forschungsergebnisse“ diese
Zone jedesmal findet, davon dürfen wir im voraus über
zeugt sein. Man wird nur den peinlichen Eindruck nicht
los, daß diese Gedankenkette bei S. zuerst umgekehrt ab
gelaufen ist: als Erstes waren da die psychoanalytischen
Forschungsergebnisse, die nach „Anwendung“ riefen —•
es galt also „Tendenzen“ aufzufinden, die diese An
wendung ermöglichen.
Das Thema der Arbeit S.’s wie überhaupt jeder psycho
analytische Beitrag zu ethnologischen Problemen ist
wichtig genug, um durch ausführliche Zitate die innere
Haltlosigkeit der Argumentationen S.’s aufzuzeigen.
In dem Kapitel über primitive Architektur über
nimmt S. zwar die übliche Aufstellung „zweier Wege,
in denen sich die naturvölkische Baukunst vom Wetter
schirm her entwickelt: die eine Richtung führt vom run
den Wetterschirm über die Bienenkorbhütte zur zy
lindrischen Kegelform, die zweite Richtung führt vom
viereckig-keilförmigen Wetterschirm zur Viereckhütte
mit Giebeldach“ (S. 67) — eine Entwicklung also zu
immer größerer Abgeschlossenheit gegenüber Einflüssen
von außen, besonders klimatischen, und zu immer größe
rer Wohnlichkeit, ermöglicht durch eine Hebung des
Daches durch besonders abgesetzte Wände. Aber S.
genügt diese schlichte Aufstellung nicht: er konstatiert
drei ,, Sonderkennzeichen der naturvölkischen
Bauweise: Geschlossenheit des Raumes, Stre
ben zur Einräumigkeit, Übergewicht des
Daches.“ (S. 58.) Für die naive Betrachtung erscheinen
diese drei Merkmale als recht natürlich: wenn am Anfang
der Entwicklung der eigentlichen Baukunst die Formen
ohne abgesetzte Wände, also reine Dachbauten stehen,
so ist es doch wohl zu erwarten, daß diese Urformen noch
lange nachwirken —• besonders wo das Dach doch tat
sächlich der wichtigste Teil am Hause ist und bleibt.
Wenn am Anfang der Entwicklung einräumige Bauten
stehen, inwiefern ist es dann so besonders erstaunlich,
daß die Mehrzahl der Naturvölker auch heute einräumige